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Sprachmythen

von Tobias Budke

Sprache ist überall und begleitet uns von frühester Kindheit bis zum Ende des Lebens - für viele Menschen vor allem in gesprochener und gehörter, seit der modernen Schulbildung aber auch für immer mehr Menschen in geschriebener und gelesener Form.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass den Menschen der Frühzeit Sprache wie ein Geschenk der Götter vorkam und man sich schon sehr früh Gedanken über die Vielzahl von Sprachen machte. Genesis 11,7 beschreibt, wie Gott, um die Menschen uneins zu machen, ihre Sprache verwirrt und so die zahllosen Sprachen erschafft, die es auf der Welt gibt.

In den magisch-religiösen Vorstellungen vieler Völker ist der Name einer Person oder eines Gegenstandes ein essenzieller Bestandteil des Ganzen. Aristoteles sprach sogar von einer Identität der Sprachform mit der wirklichen Welt. Mit dem "Wahren Namen" eines Menschen hatte man abergläubischer Vorstellung zufolge gleichzeitig Macht über diesen Menschen; die römischen "Fluchtäfelchen" (defixiones) machten davon ausgiebig Gebrauch.

Mit dieser Macht ging auch die Angst einher, bei der Verwendung von Namen unvorsichtig zu sein und dadurch Unheil heraufzubeschwören. So ist es den Hebräern nicht gestattet, den Namen Gottes zu verwenden, und noch heute sagen wir "Wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt." Häufig gab man potentiell gefährlichen oder schädlichen Tieren "Kosenamen", um den eigentlichen Namen zu vermeiden, etwa "Isegrimm" für den Wolf oder "Beowulf" für den Bären.

Die moderne Forschung geht davon aus, dass Worte mehr oder weniger willkürliche Zeichen sind, die ihre Entsprechung in der sogenannten Universellen Grammatik (Chomsky) haben. Damit soll nicht gesagt werden, dass es keine Regeln für Lautverschiebungen, Entlehnungen und Sprachökonomie gibt - ganz im Gegenteil. Es bedeutet lediglich, dass alle Bedeutungsschattierungen für alle Konzepte in allen Sprachen praktisch gleich präzise wiedergegeben werden können und keine Bezeichnung näher an dem "Ding an sich" ist.

Trotz der enormen Fortschritte, die in diesem Jahrhundert in der Sprachwissenschaft gemacht wurden, halten sich manche Mythen über Sprache jedoch recht hartnäckig. Sie reichen von amüsanten Kleinigkeiten bis hin zu schwerwiegenden konzeptionellen Fehlern.

     

    Sprache konstituiert Wirklichkeit

Fast schon ein moderner Klassiker ist die sogenannte "Sapir-Whorf-These", die davon ausgeht, dass die Art und Weise, wie wir über die Wirklichkeit sprechen, nicht nur unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verändert, sondern die Wirklichkeit selber. Dies ist ein deutlicher Anklang an postmodernistische Vorstellungen von einer Realität, die nur durch diejenigen geschaffen wird, die sie bewusst erleben.

Diese These ist ein Eckstein "linker" Sprach- und Gesellschaftskritik sowie einiger moderner Psychotherapieformen (NLP) geworden. Die Überlegung geht etwa in diese Richtung: Sprache ist sexistisch (rassistisch, homophob etc.), die Gesellschaft ist sexistisch, folglich besteht ein Zusammenhang, und wenn wir die Sprache verändern, verändern wir auch die Denkweise der Menschen.

Diese Theorie stößt auf gravierende Hindernisse. Zunächst einmal ist das Empfinden, ob eine Sprache sexistisch ist, eine sehr subjektive Angelegenheit. Vertreter dieser Theorie weisen gerne darauf hin, dass in den romanischen Sprachen etwa eine gemischte Gruppe mit dem maskulinen Pronomen (ils im Französischen) bezeichnet wird, auch wenn es sich um 99 Frauen und einen Mann handelt. Berufsbezeichnungen werden ebenfalls auf der Grundlage kritisiert, dass sie geschlechtsspezifisch sind und häufig der Eindruck erweckt wird, es handele sich ausschließlich um Männer (beispielsweise bei der Verwendung des Wortes Ärztekammer, die auch viele Frauen unter ihren Mitgliedern zählt). Auch die begriffliche Identität von "Mann" und "Mensch" in zahlreichen Sprachen (Engl. man, Frz. homme, Sp. hombre) wird als sexistisch bezeichnet, ebenso die heute als veraltet empfundenen Anredeformen wie etwa Fräulein oder Miss.

Problematisch an dieser Auffassung sind mehrere Dinge. Zunächst einmal lassen sich zahlreiche Gegenbeispiele anführen, die - wenn man so will - männerfeindlich" sind: Im Deutschen werden nicht nur gemischte Gruppen, sondern sogar 100%ige Männergruppen mit sie bezeichnet, und der Plural für alle und alles ist gleich dem weiblichen Singularartikel die. Sogar die höfliche Anrede Sie ist "weiblich".

Die Berufsbezeichnungen spiegeln tatsächlich. die gesellschaftliche und sprachliche Geschichte wider, und daher ist es keine Überraschung, dass uns viele Berufsbezeichnungen einseitig orientiert vorkommen - als der Begriff geprägt wurde, gab es einfach keine Frauen in den entsprechenden Sparten, so dass die Sprachökonomie darauf verzichtete, einen Begriff zu erfinden. Als man sie brauchte, wurden sie abgeleitet: Lehrer/in, Pilot/in, Briefträger/in. Im Englischen etwa ist das meistens nicht nötig gewesen, da es diese Trennung nur selten gibt (ein bekanntes Beispiel aus der anderen Richtung ist nurse - male nurse).

Vermutlich steht hinter den Bestrebungen, Ungetüme wie LehrerInnen oder Arzt/Ärztin (denn mit Umlauten ist es besonders schwierig) unter das Volk zu bringen, die Vorstellung, dass bei dem Wort Anwaltskammer vor dem geistigen Auge Hunderte von gutgekleideten Männern auftauchen und sozusagen vergessen wird, dass es auch Anwältinnen gibt. Das widerspricht allem, was wir über Kategorienbildung wissen. Bei dem Wort Vogel etwa fallen den meisten Menschen unseres Kulturkreises erstmal Amsel, Drossel, Fink und Star ein, aber niemand ist irgendwie gedanklich aufgewühlt, wenn er erfährt, dass es auch Strauße und Pinguine gibt. Afrikaner erwähnen vielleicht den Honiganzeiger, während Indios uns den Kolibri anbieten, aber beide hätten keine Probleme damit, den Sperling ebenfalls einzuordnen.

Was hier verwechselt wird, sind Ober- und Untergruppe. So wie Vogel ein Begriff für "federtragende Zweibeiner mit Schnabel" ist, so ist Anwalt ein Begriff für "Menschen, die Jura studiert und eine Zulassung haben". Dass dieser Begriff auch der männlichen Berufsbezeichnung entspricht, hat historische Gründe und ist mehr oder weniger Zufall. Entscheidend ist bei Vögeln und Anwälten, welche Vertreter der Spezies man kennt. Wenn ich unter meinen Freunden drei Anwältinnen zähle, dann werde ich in Zukunft eher geneigt sein, bei dem Wort Anwalt an eine Frau zu denken als an einen Mann, aber diese Markierung ist im Grunde bedeutungslos.

Ein ähnlicher Kategorienfehler findet auch bei Engl. man oder Frz. homme statt, wobei man allerdings hier durchaus eine sehr männerfeindliche Interpretation anbieten könnte, die mindestens ebenso plausibel ist. Die grundlegende Argumentation ist etwa wie folgt: "Mann und Mensch sind identisch, folglich sind Nicht-Männer (Frauen und Kinder) keine Menschen." Aber man kann das Pferd genauso gut andersherum aufzäumen: "Männer sind 08/15, also nehmen wir einfach das übliche Wort für Mensch. Aber Frauen und Kinder sind was Besonderes, und wir sollten das gebührend beachten und eigene Begriffe für sie prägen." Ein Kenner der Materie würde vielleicht sagen: "Ich habe mir kein Auto gekauft. Ein Golf ist ein Auto - meiner ist ein Maserati!"Es stimmt zwar, dass minderwertige Vertreter einer Klasse oft nicht mit dem Standardbegriff bezeichnet werden, aber höherwertige ebenso wenig - und das deutsche wie das italienische Wort für Frau geht auf die Bezeichnung "Herrin" zurück.  Außerdem wird dieser Ansatz nicht konsequent durchgeführt, denn ansonsten müsste es in den Zeitungen von Mörder/innen, Ruhestörer/innen und Raser/innen nur so wimmeln - von den Trottel/innen, Idiot/innen, Rassist/innen und Sexist/innen ganz zu schweigen. Die Menschheit ist nun mal sehr kreativ im Erfinden von unschönen Bezeichnungen, die ebenfalls beiden Geschlechtern zugute kommen sollten.

Selbst wenn man an der Überzeugung festhalten will, dass Sprache sexistisch ist, stellt sich sofort die Frage: Welche Sprache? Viele Menschen befassen sich mit ihrer Muttersprache, als ob sie alles wäre, was der Planet jemals linguistisch hervorgebracht hat (damit stellen sie sich in antike Traditionen, deren zufolge die eigene Sprache die "richtige" Sprache war). Auf den ersten Blick wirkt das Englische weniger sexistisch als das Französische, aber macht das die englische Gesellschaft weniger sexistisch? Nehmen wir im Deutschen die Sonne als Frau wahr, während die Spanier an einen Mann denken? Wohl kaum.

Die Verwechslung, die hier auftritt, ist die Verwechslung von natürlichem (engl. sex) und grammatischem (engl. gender) Geschlecht. Ein natürliches Geschlecht können nur Lebewesen haben, aber das grammatische Geschlecht ist praktisch vollkommen dem Zufall unterworfen und hat nichts, aber auch gar nichts mit dem natürlichen Geschlecht zu tun. Ist die Wurst weiblich, der Käse männlich, das Brot sächlich? Natürlich nicht. Aber auch die Frau ist nicht weiblich, der Mann nicht männlich - denn die Ebene des natürlichen Geschlechtes ist hier nicht gemeint, ansonsten müssten Kinder und Mädchen neutral sein ( Mädchen ist sächlich, weil es eine Verkleinerungsform ist - die im Deutschen alle sächlich sind). Prinzipiell kann es Dutzende von grammatischen Geschlechtern in einer Sprache geben, und keines von ihnen hat etwas mit Natur und Biologie zu tun.

Radikaler als die Bewegung gegen Sexismus in der Sprache - die in Maßen genossen durchaus einiges für sich hat: das Fräulein vermisst wohl keiner - ist die Vorstellung, dass Sprache nicht nur Einfluss auf die Wirklichkeit hat, sondern diese komplett "konstruiert". Grundlage dieser Theorie ist die Überzeugung Edward Sapirs, dass das Denken der Menschen auf den Kategorien basiert und durch die Kategorien limitiert ist, die ihnen sprachlich zur Verfügung stehen - kurz, verschiedene Sprachen führen zu verschiedenen Denkweisen. Sprache steht in diesem Rahmen da als soziokulturelles Konstrukt, dass mit den geeigneten Maßnahmen verändert ("de- und rekonstruiert") werden und somit die Denkprozesse selber verändern kann (in üblicher Ausprägung in Richtung auf eine egalitäre, gerechte, emanzipierte usw. Gesellschaft).

"Aber das ist falsch, ganz falsch.", meint der MIT-Neurolinguist Steven Pinker, und er fährt fort (in Der Sprachinstinkt): "Denken Sie einmal darüber nach. Wir haben alle schon einmal erfahren, wie es ist, einen Satz zu äußern oder niederzuschreiben und dann innezuhalten und festzustellen, dass es nicht genau das war, was wir sagen wollten." Damit so etwas geschehen kann, muss es ein "Etwas" geben, dass unzureichend durch Sprache repräsentiert wird - und dieses "Etwas" hat eindeutig Priorität vor seiner sprachlichen (Nicht-)Umsetzung. Es kommt ständig vor, dass man einen Gedanken hat, den man nicht präzise ausdrücken kann (als Sprachenfan kann ich bestätigen, dass solche Momente häufig dazu führen, dass sich ein fremdsprachiges Wort ins Deutsche einschleicht - was immer furchtbar affig klingt), aber wie oft passiert es, dass man ein Konzept präsentiert bekommt, das man einfach nicht versteht, weil es in der eigenen Sprache keine Kategorie dafür gibt? "Chuzpah ist etwas, das man einem Goj nicht erklären kann", sagt der Jude vor dem Richter, aber auch wir Gojim (Nicht-Juden) verstehen exakt, was gemeint ist. Pinker führt als Beispiel das deutsche Wort Schadenfreude an, das nur höchst mühsam ins Englische übersetzt werden kann. "Freude am Unglück eines Anderen? Ich kann dieses Konzept nicht verstehen, es gibt in meiner Sprache keine Kategorie dafür ... " Diese Reaktion ist absurd, und Pinker erwähnt gleich darauf die tatsächlich erlebte: "Sie meinen, es gibt ein Wort dafür? Cool."

Wenn die Sapir-Whorf-These des linguistischen Determinismus (so ihre wissenschaftliche Bezeichnung) stimmte, wie kämen neue Wörter dann ins Leben? Wären Übersetzungen überhaupt noch möglich? Wenn ich sechs Sprachen spreche, habe ich dann sechs Identitäten, die nur schlecht bis gar nicht miteinander kommunizieren können?

Erstaunlicherweise scheint sich auch niemand die Frage zu stellen, wie es mit dem Wirklichkeitserleben von Tieren oder Urmenschen verhält, die keine Sprache kannten.

Die Wirklichkeit erschafft die Sprache, nicht andersherum. Die Attraktivität der deterministischen Theorie speist sich vermutlich aus zwei Quellen: Sie macht alles so schön formbar, und sie legt viel Macht in die Hände der "Sprachexperten". Beides hat wenig mit Wissenschaft und viel mit Aberglaube zu tun; es unterscheidet sich mithin nur wenig von der uralten Vorstellung, dass der Name eines Dinges Macht über das Ding verleiht.

 

    Es gibt Sprachen ohne Grammatik

Vom Chinesischen wird häufig behauptet, es habe "keine Grammatik". Da eine Sprache ohne Grammatik ähnlich viel Sinn macht wie eine Mathematik ohne logische Zusammenhänge, muss das Chinesische schon ein sehr außergewöhnliches Konstrukt sein, und tatsächlich erweist sich diese Vorstellung als falsch.

Wenn eine Sprache keine Grammatik hat, ist es unmöglich, einen Fehler zu machen (Linguisten sprechen von "ungrammatischen Konstruktionen", wenn Normalsterbliche "Fehler" sagen). Daher ist mein Chinesisch zwangsläufig perfekt, und Ihres auch.

In einer Sprache ohne Grammatik gibt es keine Wortarten, daher auch keine Unterscheidung zwischen Verben, Substantiven, Konjunktionen und so weiter. Die Kommunikation in einer solchen Sprache wäre auf einzelne Wörter beschränkt. "Ein solches System ähnelt dem, was wir von sehr einfachen tierischen Kommunikationssystemen wissen." (Bauer).

 

    Kinder lernen ihre Sprache von ihren Eltern

In der frühen Kindheit hat der Mensch für eine Weile die Fähigkeit, den "Sprachinstinkt" (Steven Pinker) dazu zu verwenden, offenbar mühelos eine Sprache - die Muttersprache - zu erlernen. Dieses Entwicklungsfenster schließt sich nach einer Weile wieder, und hat das Kind bis dahin keine Sprache erlernt, so sind irreparable Schäden an seiner linguistischen Entwicklung vorprogrammiert.

Kinder lernen ihre Sprache jedoch weder von ihren Eltern noch passiv von ihrer Umgebung. Natürlich benötigen sie jemanden, der ihnen die Sprache zunächst einmal vermittelt, aber das kann jeder beliebige Sprecher sein, in der Zukunft wahrscheinlich sogar ein Computer. Aufgrund der Lebenswelt der meisten Kinder sind es die Eltern (vor allem die Mutter, daher Muttersprache), die die Sprachvermittlung übernehmen, aber die Kinder lernen nicht, wie ihre Eltern zu sprechen: Sie verwenden eigene Kategorien, machen Fehler (etwa die sogenannten hypercorrections), die sie niemals irgendwo gehört haben, und erwerben eine Kompetenz, die nur sehr schwach mit derjenigen ihrer Eltern korreliert. In den sogenannten "Kreolsprachen" wurde dieser Prozess untersucht und eindrucksvoll bestätigt: Obgleich ihre Eltern sich in einem "Pidgin" verständigten, gelang es den Kindern mühelos, dieses Pidgin innerhalb einer Generation in eine vollständige Sprache umzuwandeln, die von den Eltern nicht wirklich verstanden wurde.  Das ist nur dadurch zu erklären, dass Kinder in jeder Generation ihre Sprache praktisch neu erfinden.

 

    Zweisprachig aufwachsende Kinder lernen mühelos zwei Muttersprachen

Im Zeitalter der Internationalisierung aller Lebensbereiche gilt es mit Recht als erstrebenswert, Fremdsprachen zu beherrschen (allerdings nicht irgendwelche - das fließende Sprechen von Lettisch, Wolof oder Quechua dürfte die Arbeitsmarktchancen kaum verbessern). Daher beneiden viele Menschen Kinder, deren Eltern verschiedene Muttersprachen haben und die daher zweisprachig aufwachsen (Bilingualismus).

Dieser Neid ist berechtigt, denn ein Mensch, der mit fünf Jahren bereits z.B. Englisch und Französisch kann, hat auf jeden Fall Vorteile. Allerdings kann nicht die Rede davon sein, dass dieser Spracherwerb mühelos vonstatten geht. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Eltern außerordentlich konsequent ihre Muttersprache durchhalten müssen (etwa Mama Deutsch, Papa Arabisch); da jedoch die Zeit, die die Elternteile mit dem Kind verbringen, meist nicht mal einigermaßen gleich ist, kommt es rasch zu Bevorzugungen seitens des Kindes für eine Sprache. Auch Familiengespräche zwischen Mutter und Vater sind eine mögliche Ursache für Verwirrung, ebenso Geschwisterkinder. Das Umfeld der Kinder (etwa das Land, in dem sie leben) bringt sie häufig auf eine Sprachspur, die sie dann weiterverfolgen, und oft wird eine Sprache "erbarmungslos fallengelassen" (Dieter Zimmer), wenn die Kinder sie nicht mehr brauchen oder wollen.

Es ist kurios, dass bis vor etwa vierzig Jahren zweisprachig aufwachsende Kinder als mehr oder weniger "beschränkt" galten. Das ist natürlich falsch, aber es ist ebenso falsch, davon auszugehen, dass die Zweisprachigkeit sich automatisch entwickelt und ein Leben lang Bestand hat. Daher sollten die Eltern nicht enttäuscht sein, wenn ihr Kind sich irgendwann für eine Sprache entscheidet und diese beibehält. Zu einem späteren Zeitpunkt wird es sicher weniger Mühe haben, die "zweite" Sprache systematisch zu erlernen, und wahrscheinlich generell ein Händchen für Sprachen bewahren können.

 

    Sprache muss "rein" bleiben

In diesem Zusammenhang bedeutet "rein" meist so viel wie "das Deutsche muss auch in 500 Jahren noch Deutsch klingen, und wir sollten uns gegen den Zulauf fremder Wörter wehren." Ein Satz wie "Gestern hatte ich ein Event-Meeting mit dem Manager, das ziemlich smooth ablief und wenig Trouble machte." sendet vielen Menschen einen kalten Schauer über den Rücken.

Jedoch ist "Reinheit" in der Sprache eine Illusion. Nehmen Sie zum Beispiel folgenden Satz: "Denn ihire Söhne sind es, die das Land defendieren, davon die race so gut ist, dass sie auf alle Weise meritieret, konservieret zu werden." Dieser Satz ist knapp 250 Jahre alt und zu einer Zeit entstanden, als das Deutsche nicht vom Englischen, sondern vom Französischen stark beeinflusst wurde, und damals wie heute gab es eine Bewegung hin zu einem "deutscheren Deutsch": Philipp von Zesern und Joachim Heinrich Campe etwa ersetzten zahlreiche als unschön empfundene Lehnwörter durch deutschere Ausdrücke, die uns heute nicht mehr als erfunden erscheinen; allerdings schafften es viele ihrer Vorschläge niemals in die Sprache. In heutiger Zeit bemühjt sich der Verein Deutsche Sprache e.V. um die Abwehr "unnötiger fremdsprachlicher Ausdrücke".

Man kann sich darüber streiten, ob Campe gescheitert ist oder ob der moderne Verein scheitern wird. Wenn von hundert Vorschlägen auch nur fünf den Weg in die Sprache schaffen, kann man das schon als Erfolg bezeichnen. Aber die Reinheit einer Sprache ist Illusion. Sprache verändert sich, und zwar heutzutage schneller denn je, und das ist gut so, denn eine Sprache, die sich nicht mehr verändert, ist tot (in diesem Sinne ist Latein übrigens keine tote Sprache, denn es werden noch moderne Werke auf Latein verfasst). Natürlich stört es einen manchmal, wenn "Sprachpanscher" (nicht meine Bezeichnung) am Werke sind, aber das liegt vor allem daran, dass es affektiert klingt, Fremdwörter zu benutzen, wenn "gute deutsche Ausdrücke" zur Verfügung stehen. Allerdings ist mir nicht ganz klar, warum das "Event-Managing und Staging einer Performance" affektierter sein soll als FJS' berühmtes "Pacta Sunt Servanda" - da scheint doch mit zweierlei Maß gemessen zu werden.

Die deutsche Sprache wird auch diesen Angriff "überleben", da sie - wie alle Sprachen der Welt - flexibel und stabil genug ist; und in 1000 Jahren wird ohnehin niemand mehr ein Deutsch sprechen, das einem Menschen des Jahres 2001 sofort verständlich wäre. Trost für die gepeinigte Seele ist schon auf dem Weg: Japanische Worte finden immer stärker ihren Weg in das amerikanische Englisch, so dass man in Seattle vermutlich bald auch so ka, s araryman und tempura sagen wird.

 

    Es gibt leichte und schwere Sprachen

Ob eine Sprache leicht oder schwer ist, hängt von der Perspektive des Lernenden ab. Es gibt keinen objektiven Maßstab dafür, ob Japanisch schwerer ist als Spanisch; für mich ist es das bestimmt, aber ich bin auch mit einer Muttersprache aufgewachsen, die dem Spanischen sehr ähnelt (Deutsch). Wäre ich Koreaner, würde ich das vielleicht ganz anders empfinden. Bis vor einigen Jahren hätte ich gesagt, Polnisch ist ziemlich schwierig; mittlerweile habe ich einige Grundkenntnisse im Tschechischen und stelle fest, wie ähnlich das Polnische doch ist. Leicht und schwer hängt also sehr stark von den jeweiligen Vorkenntnissen und der allgemeinen linguistischen Ausbildung ab, die man mitbringt.

Einzelne Aspekte einer Sprache können natürlich einfacher zu lernen sein als in anderen Sprachen. Das Erlernen des grammatischen Geschlechts im Englischen ist praktisch ein no-brainer, ebenso die Rechtschreibung im Spanischen (sie ist wysiwyg - man schreibt, was man hört). Aber unter dem Strich ist keine Sprache wirklich leichter als die anderen.

Auch so subjektive Kategorien wie "schön" und "hässlich" fallen natürlich in diesen Bereich. Französisch ist sexy, Deutsch maschinengleich, Russisch seelenvoll - als Folklore ist das alles ganz schön, aber mit Linguistik hat das alles nichts zu tun.

 

    Einige Sprachen sind primitiver als andere

Im Zuge der kulturell relativistischen Anthropologie, die mit den Namen Franz Boas, Margaret Mead und Ruth Benedict verknüpft ist, wurde explizit auch auf die Vorstellung eingegangen, dass es "primitive" Sprachen gebe, die der "Primitivität" der eingeborenen Völker entspreche, und es ist ein großes Verdienst dieser Forschungsrichtung, klarzustellen, dass es so etwas wie eine primitive Sprache nicht gibt. Steven Pinker formuliert dies so: "Es gibt Steinzeitkulturen, aber so etwas wie eine Steinzeitsprache gibt es nicht."

Warum nicht? Sprache verwendet angeborene neurale Module (deren Gesamtheit Pinker als "Sprachinstinkt" bezeichnet), und allen menschlichen Sprachen liegt die sogenannte Universalgrammatik zugrunde (Chomsky), die allen Menschen zu eigen ist. Selbstverständlich ist es denkbar, dass eine Steinzeitkultur auch im Jahre 2001 noch kein passendes Wort für Raumschiff hat, aber wenn Raumschiffe anfangen, im Leben dieser Menschen eine Rolle zu spielen, werden sie das Konzept ruckzuck mit einem Wort ausstatten (dessen genaue Gestalt im Rahmen der Regeln ihrer Sprache mehr oder weniger zufällig sein kann).

Das bedeutet nicht, dass es eine "primitive" Sprache niemals gegeben hat - sie ist sogar auf dem Weg zu unserer heutigen Sprache unvermeidlich gewesen, und die Paläontologen und Neurobiologen diskutieren darüber, ob die heutige Sprachstufe 40.000 oder 100.000 Jahre alt ist oder irgendwo daziwischen liegt. Aber für die Menschen der letzten dreißigtausend Jahre hat das keine Bedeutung.

 

    Eskimos haben 400 Wörter für Schnee

Dieser Klassiker ist schon oft widerlegt worden, so dass ich hin hier nur aus Pietätsgründen aufnehme, und er kommt indirekt aus der Sapir-Whorf-Richtung des linguistischen Determinismus.

Im Jahre 1911 erwähnte Franz Boas beiläufig, die Eskimos verwendeten vier Wörter mit unterschiedlichen Wurzeln für Schnee; B. L. Whorf erweiterte dies auf sieben und deutete an, es gebe noch mehr. Laura Martin hat dargestellt, dass diese Geschichte mutierte wie eine Großstadtlegende (Pinker). Selbst wenn es stimmte, wäre es, wie Geoffrey Pullum zu Recht feststellt, "eine unglaublich banale Beobachtung.", denn ein spezielles Vokabular ist immer umfangreicher als ein Laienvokabular und würde nichts anderes bedeuten, als dass Schnee im Leben der Eskimos eine zentrale Rolle spielt - was niemanden überraschen sollte. Allerdings haben die Eskimos exakt zwei Wörter für Schnee: quanik, wenn er liegt, und aput, wenn er fällt. Die meisten von ihnen leben auch nicht in Iglus, das nur so am Rande.

 

Literaturtips (englisch)

Bauer, Laurie/Trudgill, Peter (Ed.): Language Myths. London 1998.

Pinker, Steven: The Language Instinct. New York 1994. Deutsch als: Der Sprachinstinkt

(deutsch)

Zimmer, Dieter: Deutsch und anders. Reinbek bei Hamburg 1997.

 

 

 

 

 

 

 

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