Netzwerke und Seilschaften
30.08.2004
Der Wirtschaftsjournalist Thomas Öchsner von der Süddeutschen Zeitung (http://www.sueddeutsche.de) hat mir freundlicherweise erlaubt, seinen neuen Artikel in meiner Web-Site wiederzugeben.
Die originale URL des Artikels ist http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/84/38046/
Aribert Deckers
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27.08.2004 17:34 Uhr
Ober-, Unter-, Unterunterverkäufer
Sammle Menschen und werde reich
Pyramidenfirmen sind für Verbraucherschützer eine
besonders fiese Form der Abzocke, trotzdem haben sie
starken Zulauf - sie inszenieren den Traum vom großen
Geld.
Von Thomas Öchsner
Gerda Keppler mag Fragen, auf die sich eine Antwort
eigentlich erübrigt. Wer, fragt sie in die Runde, träume von
einem stetig fließenden hohen Einkommen, ohne dafür noch
viel tun zu müssen.
Fast alle Hände gehen brav nach oben. "Stellen Sie sich
vor, Ihr Nachbar geht im Internet einkaufen und bei Ihnen
klingelt die Kasse. Gefällt Ihnen das?" Die Zuhörer nicken.
Die Zuhörer nicken immer, wenn Gerda Keppler fragt.
Denn Keppler will, dass die Zuhörer nicken, und so stellt
sie auch ihre Fragen.
"Freuen Sie sich, dass Sie hier sind", sagt sie gleich zu
Beginn ihres Vortrags, um dann von "absolut genialen"
Wachstumschancen und den "Schürfrechten am
gewaltigsten Markt Europas" zu schwärmen. Gemeint sind
damit die Telefon- und Stromverträge und Kundenkarten
für den Einkauf im Internet, die das Unternehmen Innoflex
verkauft.
Keppler erweckt zumindest den Anschein, es in der
Hierarchie der Berliner Firma zu etwas gebracht zu haben.
Sie darf sich "internationale Direktorin" nennen, auch
wenn ihr Vortrag eher so wirkt, als hätte sie die Rhetorik
mühsam einstudiert. Man möge sich einmal vorstellen, mit
einem Firmenwagen der Marke Mercedes herumfahren zu
können, sagt sie, um nachzuschieben: "Sie müssen nur noch
tanken. Das ist ein Gefühl."
Jede Woche lädt das Unternehmen zu solchen
Präsentationen ein, überall in Deutschland, in gediegene
Hotels oder wie hier in einen kargen Veranstaltungsraum
mitten im Industriegebiet von Eching bei München. Das
Ziel: Menschen zu gewinnen, die im Glauben an das große
Geschäft neue Vertriebspartner werden - und die
wiederum neue Unterverkäufer an sich binden, an deren
Umsatz sie mitverdienen wollen.
Im Fachjargon betreiben solche Direktvertriebe Network
Marketing oder Multi Level Marketing (MLM). Wer in der
Vertriebsstruktur oben ist, verdient viel, wer unten ist, gar
nichts oder wenig. Für Edda Castello, Finanzexpertin der
Verbraucherzentrale Hamburg, ist MLM deshalb nur "ein
beschönigender Ausdruck für Ketten- oder
Pyramidensysteme und eine besonders raffinierte Form der
Abzocke".
Und die erleben in Zeiten von Arbeitsmarktreformen und
Hartz IV eine neue Blüte: "Wir haben beobachtet, dass
MLM-Firmen verstärkt Erwerbslose ansprechen", sagt
Stefan Wegener, Leiter der Arbeitsgruppe äSchneeball“
beim Landeskriminalamt Berlin.
Hans Thiel*) war auch "Innoflexer". Den Verkaufsberater
beim Agrarhändler BayWa sprach ein Bekannter an.
"Hans", sagte er, "da musst du hin, das ist eine
Megasache." Thiel fuhr vom Oberallgäu nach Eching, hörte
Frau Keppler beim Reden zu und gab irgendwann nach:
"Mein Bekannter hat so lange auf mich eingeredet, bis ich
unterschrieben habe."
Unterschreiben heißt bei Innoflex aber zunächst einmal
investieren. Die Neulinge müssen 77 Euro für einen
durchsichtigen Plastikkoffer zahlen. Ohne den geht gar
nichts.
Darin befindet sich ein Leitzordner, das innoflex business
kit mit viel wertlosem Papier: ein gutes Dutzend
Auftragsformulare für potenzielle Kunden der Telefonfirma
FlexFon, ein Paket mit Flugblättern zum neuen Tarif, ein
bunter Flyer über das Firmenwagenprogramm mit einem
silbernen Mercedes vom Typ SL 500 auf der Titelseite und
einige Seiten Erbauliches. Da steht zum Beispiel: "Lieben
Sie Ihr Produkt 24 Stunden am Tag" oder "Fangen Sie
jeden Tag wieder bei 1 x 1 an."
Mit den 77 Euro kommt ein Neuling bei dem Unternehmen
jedoch nicht weit. Um neue Vertriebspartner gewinnen und
daran verdienen zu können, sind weitere 1199 Euro fällig.
Als Keppler bei ihrem Vortrag darauf zu sprechen kommt,
fragt sie, was denn sonst so beim Eintritt in die
Selbstständigkeit investiert werden müsse.
Prompt meldet sich der Bekannte von Thiel und sagt, er
habe 8,5 Millionen Mark in den Aufbau seines
Holzgeschäftes investiert. Gemessen daran erscheinen die
1199 Euro wirklich läppisch. Und außerdem, sagt Keppler,
sei das ein Aktionspreis. Normalerweise koste das 3996
Euro, und hier bekomme man quasi "eine Lizenz zum
Gelddrucken".
Thiel hat es inzwischen längst bereut, dass er sich auf die
teure Lizenz eingelassen hat. Schnell musste er feststellen,
dass sich Strom- und Telefonverträge bei Bekannten und
Verwandten doch nicht so leicht verkaufen lassen.
Vor dem Wechsel des Stromanbieters haben viele
Menschen große Scheu. Und wer beim Telefonieren sparen
will, wählt einfach eine Call-by-Call-Nummer vor. Thiel
ärgert sich auch über sich selbst, weil er sich so über den
Tisch hat ziehen lassen. "Wenn du da drin sitzt, kommt dir
das alles logisch vor, weil die alles schön reden. Das ist
eine halbe Gehirnwäsche."
Die Masche wird je nach MLM-Firma variiert: Egal ob es
um den Verkauf von Kosmetika, Reinigungsmitteln oder
angebliche Wundermittel wie den Saft der Südsee-Frucht
Noni geht – stets suchen die Vertriebsleute den
persönlichen Kontakt. Dabei wird häufig nicht einmal das
Produkt erwähnt.
Selbst das Wort Verkauf kommt oft überhaupt nicht vor,
obwohl es genau darum geht. "Die Heilslehrer des MLM
benutzen die Sprache wie bei Sekten als Werkzeug zur
Schaffung einer Parallelwelt", sagt Aribert Deckers. "Zum
Beispiel das Wort sponsern ist beim MLM nichts anderes
als untergeordnete Händler anheuern." Der
Diplom-Ingenieur beschäftigt sich seit Jahren auf seiner
Homepage www.ariplex.com/ama/ama_p0.htm
kritisch mit MLM.
Wer gutgläubig, fachfremd oder naiv und in so eine
Veranstaltung hereingeraten sei, sei dem Lug und Trug
durch Rhetorik meist nicht gewachsen. "Solche Leute
kommen heraus und sind inbrünstig entschlossen, mit dem
ihnen angepriesenen Geschäftsmodell die Welt zu
erobern", sagt Experte Deckers.
Bei Innoflex scheint dies nicht nur in Eching zu
funktionieren, wo es vor dem Eingang in die Räume des
Unternehmens passieren kann, dass eine schon etwas ältere
Dame einen begeistert anspricht: "Na, sind Sie auch schon
Innoflexer?"
Der Berliner Gewerbehauptkommissar Wegener sagt: "Mit
den Leuten, die Innoflex in den letzten Jahren angeworben
hat und die ihr Geld verloren haben, können sie das neue
Fußballstadion in München füllen."
Derzeit bemüht sich das Unternehmen, den Markt in Ungarn
aufzurollen. Auch in Österreich war Innoflex aktiv, so dass
Verbraucherschützer der Arbeiterkammer Vorarlberg
bereits warnten: "Die Einzigen, deren Traum vom
schnellen und einfach verdienten großen Geld in Erfüllung
geht, sind wahrscheinlich jene, die an der Spitze dieses
Systems stehen."
Wegener sieht dies genauso. "Es ist das System der
fortlaufenden Provisionen, das die Menschen anzieht und
sie dazu bringt, Geld einzuzahlen. Sie hoffen, in der
Pyramide schnell nach oben zu kommen.
Der größte Teil, vielleicht 95 Prozent, ist aber nach einem
Monat wieder ausgestiegen, weil er gemerkt hat, dass hier
nichts zu holen ist", sagt der Experte. Der Kommissar hat
bereits 1999/2000 in Sachen Innoflex ermittelt.
Auch er glaubt, dass es den Drahtziehern in erster Linie
darum geht, Gebühren für den Plastikkoffer und Schulungen
zu kassieren. Juristisch würde es sich damit um ein
Pyramidensystem handeln, das darauf angelegt ist, sich
selbst zu multiplizieren und daraus Gewinne zu erzielen -
unabhängig vom Absatz irgendwelcher Produkte.
Solche Pyramidensysteme sind in Deutschland verboten,
die Drahtzieher können zwei Jahre hinter Gitter wandern.
Im Fall Innoflex hat der Staatsanwalt inzwischen Anklage
erhoben. Das Landgericht Berlin entscheidet, ob den
Hintermännern Robert und Thomas Mundt der Prozess
gemacht wird.
Das Bruderpaar hält derzeit etwa 90 Prozent am Kapital
der Muttergesellschaft von Innoflex, der United Network
Industries (Uni AG).
Beide sind im Vorstand der Uni AG. Vorstandsmitglied
Martin Rothe sagt zu der Anklage: "Wir haben nichts
Unrechtes getan." Um dies dokumentieren zu können,
wünsche sich die Uni AG sogar einen Prozess.
Rothe prophezeit dem Unternehmen eine große Zukunft. Für
2007 ist der Börsengang geplant. Der Umsatz, im Jahr
2002 bei 12 Millionen Euro, soll bis dahin auf 452
Millionen Euro klettern. Das sei möglich, weil die Uni AG
jetzt über eine eigene Strom- und Telefontochter verfügt
und die Vertriebstochter Innoflex nicht mehr die Verträge
von anderen Anbietern vermitteln müsse.
Derzeit sammelt die Uni AG 50 Millionen Euro über den
Verkauf von Genussrechten und Genussscheinen bei
Anlegern ein. Im Emissionsprospekt findet sich ein Bild
von der Landung der amerikanischen Astronauten auf dem
Mond. Das Foto ist unterlegt mit einem Zitat von
Vorstandschef Robert Mundt: "Dinge, die wir uns
vorstellen und träumen können, sind auch realisierbar -
dabei ist keine Vision zu groß", heißt es da.
Die Fakten sehen nüchterner aus: Im März bezifferte die
Innoflex-Mutter Uni AG die Zahl der Vertriebsleute auf
35.000. Rothe sagt, er hätte in seinem Computer sogar
"75.000 Namen".
Gleichzeitig ist im Emissionsprospekt der Uni AG von
mehr als einer Million Vertragsabschlüssen die Rede.
Rechnet man mit 35.000 Vertriebsleuten, wären dies pro
Nase nicht einmal 30 Verträge - bei Provisionen, die pro
Vertrag vielleicht gerade ein Abendessen hergeben.
Exakte Zahlen über Einkünfte und Fluktuationsraten bei
MLM-Firmen gibt es nicht. Wer in den unteren
Stockwerken der Pyramide arbeitet, dürfte trotz aller
Anstrengungen oft nicht einmal den Sozialhilfesatz
erreichen. Bei einer Umfrage des deutschen Internetportals
mlm-news gab fast die Hälfte der Befragten an, nicht mehr
als 500 Euro pro Monat zu verdienen.
Auch die Berichte, die große MLM-Unternehmen in den
USA, dem Mutterland der Bewegung, vorgelegt haben, sind
eindeutig: Von den Provisionen kann die Masse der
Verkäufer nicht leben. 50 bis 70 Prozent kündigen binnen
eines Jahres.
Bei Innoflex ist davon nichts zu hören. Egal welchem
Mitarbeiter man in Eching gegenübersitzt, er kritzelt ein
Papier mit Pfeilen und Additionen voll, bei dem immer
gigantische Summen herauskommen. Dabei ist das Modell
schon mathematisch absurd. Unbegrenzt lassen sich nicht
ständig neue Unterverkäufer gewinnen.
Wenn aber zum Beispiel bereits ein Oberverkäufer tausend
Unterverkäufer benötigt, um ein auskömmliches
Einkommen zu erzielen, brauchen diese tausend schon eine
Million weiterer Unterverkäufer, um den Erfolg zu
kopieren – eine irrsinnige Vorstellung.
Die Verfechter des MLM sehen dies ganz anders. "Zum
Schuldigen wird nicht das Prinzip des MLM gemacht,
sondern stets der Einzelne, der angeblich nichts tun will
und deswegen nicht vorankommt", sagt Experte Deckers.
So erging es auch dem ehemaligen Innoflexer Thiel. "Du
musst Gas geben, mehr multiplizieren, hat mir mein
Sponsor immer wieder vorgehalten", erinnert er sich.
Aber nach ein paar Wochen hatte Thiel begriffen, dass es
gar nicht an ihm liegt und "es in Wirklichkeit hier darum
geht, seine Kameraden zu bescheißen". Hinzu kam der
Ärger mit den Telefonverträgen. Bekannte, denen er die
Verträge der Uni-AG-Tochter FlexFon verkaufte, ärgerten
sich, dass die Gesprächsgebühren viel höher waren als
erwartet. Thiel hat sich inzwischen bei allen entschuldigt.
*) Name von der Redaktion geändert
(SZ vom 28.08.2004)
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Aribert Deckers