Dr. Andreas Püttmann

Borreliose – Kleiner Biss mit großen Folgen

Eine heimtückische Infektionskrankheit als ethische Herausforderung für Ärzte, Patienten, soziales Umfeld und Gesellschaft. 2002.

“Borreliose tötet nicht, sie nimmt das Leben”, sagt eine ältere Patientin in der Paracelsusklinik Hannover, einem Therapiezentrum für diese durch Zeckenbisse verursachte gefährliche Infektionskrankheit, an der in Deutschland jährlich zwischen 60.000 und 80.000 Menschen neu erkranken. Im Frühstadium der ersten Tage oder Wochen erkannt, ist sie bei ausreichender (ca. dreiwöchiger) antibiotischer Behandlung zu 100 Prozent heilbar, im Spätstadium nach Monaten oder Jahren in etwa jedem fünften Fall nicht mehr. Die Folge: in Art und Schwere unterschiedliche Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems, der Gelenke, der Haut und des Bindegewebes, innerer Organe sowie der Psyche, bis hin zu drastischen Persönlichkeitsveränderungen. Die F.A.Z. apostrophierte die Borreliose kürzlich gar als “Geisteskrankheit”. Manche Patienten sterben (etwa an Herzversagen) bzw. leben wesentlich kürzer, andere gehen einen langen und beschwerlichen Leidensweg, einige landen im Rollstuhl oder in der Psychiatrie. Viele verlieren ihre Arbeitsstelle und sind zur Frühverrentung gezwungen. Soziale Beziehungen zerbrechen unter der Dauerbelastung oder schlicht aufgrund der schwindenden Aktivitäten des Kranken. Kurzum: Borreliose kann auf verschiedene Weise zu einem “Abschied vom Leben” werden.

Symptomatisch ähneln die meisten chronischen Fälle der multiplen Sklerose (häufige Fehldiagnose), bakteriologisch ist die Borreliose der Syphilis vergleichbar: die schraubenförmigen Bakterien (Spirochäten) können sich überall im Körper festsetzen, vorwiegend in schlecht durchblutetem Gewebe, wo sie von Antibiotika und dem körpereigenen Immunsystem schlecht erreicht werden. Nach langen Latenzphasen können Schübe das Krankheitsbild dramatisch verschlechtern, insbesondere bei Überwindung der Blut-Hirnschranke. Die frühen Symptome (Hautrötungen – nicht immer! -, Fieber, Schweißausbrüche, Schwäche, Müdigkeit) sind relativ unspezifisch und leicht zu übersehen bzw. zu übergehen. Sie werden auch von Ärzten oft falsch gedeutet: grippaler Infekt, Erschöpfung, Kreislaufschwäche, Depression, Hypochondrie. In ihrer Verwechselbarkeit und ihrem meist schleichenden Verlauf liegt die besondere Heimtücke dieser Krankheit.

Doch von den medizinischen Aspekten soll hier nicht hauptsächlich die Rede sein, auch nicht von den vielen Fällen frühzeitiger Diagnose und kurzfristiger Heilung. Wer eine langwierig verlaufende oder chronische Borreliose am eigenen Leib und in der eigenen Seele durchlitten hat, bei dem keimt nicht selten Empörung über Ärzte und Krankenkassenvertreter, aber auch Familienmitglieder, Kollegen und so manche “Freunde”. Denn es dürfte wenige Krankheiten geben, die so hohe ethische Anforderungen an menschliche Einfühlsamkeit, kluges Differenzierungsvermögen, ärztliches Berufsethos und praktische Solidarität stellen wie diese. Die Pathologie kennt zwar erschreckendere Namen und höhere Sterblichkeitsraten – Krebs, Aids, MS -, doch der subjektive und objektive Leidensdruck dürfte bei vielen chronisch Borreliosekranken ähnlich sein, schon weil sie zu allem Schaden auch noch permanent um die “Anerkennung” ihrer Erkrankung und die richtige Behandlung bzw. deren Finanzierung kämpfen müssen. Dies wiederum hängt zusammen mit der relativ späten Entdeckung (1981) und unzureichenden Erforschung der Borreliose, ihrer geringen Bekanntheit, ihrer noch recht unsicheren Diagnostik und Therapie und vor allem ihrem unspezifischen Erscheinungsbild: “Man sieht Dir aber nichts an” – “Schlapp fühl’ ich mich auch öfters” – “Ich bin doch auch schon von Zecken gebissen worden” – “Das kriegt man doch nur in Süddeutschland” – “Es kommt nur auf die richtige innere Einstellung an” …. Mit solch ignoranten bzw. im schlimmsten Sinne “wohlmeinenden” Äußerungen dauernd konfrontiert zu werden (wogegen schon das bloße Wort “Krebs” die Umgebung mitfühlend erschaudern lässt), gehört zum täglichen, kräftezehrenden Kampf vieler Borreliosekranker, welche die Schwere der Krankheit mit jeder Faser ihres Körpers spüren und sie ihrer Umwelt doch nicht kommunizieren oder sinnfällig “beweisen” können – jedenfalls bis sich die drastischsten körperlichen Symptome (Lähmungen) oder nuklearmedizinisch darstellbare Entzündungsherde in Gehirn oder Rückenmark eingestellt haben. Bei manchem ist die Verzweiflung über das Unverständnis der Umgebung oder ärztliche Inkompetenz schon so groß, dass er sich solche “Beweise” fast schon herbei wünscht.

Versagen ärztlicher Kompetenz und Berufsethik

Nur jeder dritte Arzt in Deutschland besitzt laut einer Medizinerumfrage Grundkenntnisse über Borreliose. Kein Wunder: Die heute über 50jährigen haben in ihrer Ausbildung über diese Krankheit schon gar nichts gelernt. Und wenn die Kalkulation stimmt, dass ein Internist für die Fortbildung über alle in sein Fachgebiet fallenden Krankheiten allein 36 Wochenstunden Lesezeit investieren müsste, um “à jour” zu sein, dann scheint die Entschuldigung für diagnostisches und therapeutisches Versagen auf der Hand zu liegen: Das kann bei vollen Wartezimmern und zunehmender bürokratischer Gängelei niemand leisten! Also fällt die Fortbildung wohl bei den meisten weg oder erschöpft sich in Lustreisen oder Luxusdiners mit Pharmafirmen zum Promoten eines neuen Medikaments. Im Ergebnis verfügt mancher Arzt nur über ein Standardrepertoire der vielleicht 50 häufigsten Krankheiten seines Fachgebiets; wer mit einem selteneren Leiden kommt, hat schlechte Aussichten auf eine zutreffende Diagnose und die richtige Therapie. Da kein Fachmann gern Ratlosigkeit eingesteht, werden unklare Fälle oft nicht weiter überwiesen oder bis zu einem Konsil beim Kollegen bzw. eigener Recherche vertagt, sondern mit einer Standarddiagnose – Hauptsache Rezept – nach den üblichen zehn Minuten (bei Privatpatienten dürfen’s auch zwanzig sein) aus dem Sprechzimmer “entsorgt”.

So wundert es nicht, dass fast alle Borreliosekranken bis zur richtigen Diagnose eine Odyssee durch Arztpraxen hinter sich und die Chance auf kurzfristige Heilung bereits verloren hatten. Der Autor selbst suchte mit (anfänglichem) Fieber, Hautrötungen, Schwäche, Husten und Knochenschmerzen zwischen Mai und November 2001 vier Internisten und einen Allgemeinmediziner – darunter hochbetitelte und klingende Namen der Medizinerszene zweier Universitätsstädte – auf, um mit den Fehldiagnosen Grippaler Infekt, Allergie, Bronchitis, vegetative Dystonie und (unausgesprochen) Hypochondrie – “Trinken Sie mal ein gutes Weizenbier und treiben mehr Sport” – nach Hause geschickt zu werden. Derweil breiteten sich die Borrelien in seinem Körper weiter aus und passierten nach einer Grippeimpfung und Salmonelleninfektion schließlich die Blut-Hirn-Schranke. Selbst die dann manifest werdenden neurologischen Störungen (u.a. plötzliche Ertaubung der Finger nachts, Schmerzen im/unterm Brustbein) wurden noch falsch mit Haltungsschäden erklärt und mit Massagen behandelt.

Doch auch ein stürmischer Verlauf mit frühzeitigen Lähmungen oder Sehstörungen garantiert nicht diagnostische Treffsicherheit. Ein Drittel der im Mai 2002 in der Hannoverschen Paracelsusklinik behandelten Patienten hatte zunächst die Fehldiagnose “MS” erhalten und wurde zum Teil schon mit Kortison (bei Borreliose kontraindiziert!) behandelt, bevor man sie auf eine Borrelien-Infektion getestet hatte. Dabei zählt die Borreliose in der Neurologie zweifellos zu jenen 50 häufigsten Krankheiten, die selbst ein beschränkter diagnostischer Blickwinkel abdecken müßte.

Noch unwahrscheinlicher scheint aber eine symptomschwache Neuroborreliose von Neurologen (an)erkannt zu werden, weil sich gerade in ihrem Fach die technizistische bzw. empiristische Versuchung der Schulmedizin unheilvoll auswirkt: in der Vorstellung, alles Pathologische im menschlichen Körper durch Messung, Anschauung oder Abbildung nachweisen zu können. So wurde ein Patient von drei Neurologen, darunter einem Privatdozenten eines renommierten Universitätsinstituts auf Neuro-Borreliose untersucht, in dem er zum Beispiel durchs Zimmer hüpfen, die Finger bei geschlossenen Augen zur Nasenspitze führen und jede Menge Elektroschocks zur Messung der Reizleitung in Armen und Beinen über sich ergehen lassen musste. Mangels meß- oder sichtbarer Ausfallerscheinungen wurde eine Borreliose in Abrede gestellt, zumal nach einer – sechs Monate zurückliegenden – Punktion auch keine Veränderung des Liquors ersichtlich war (was jedoch durchaus häufig und kein Ausschlusskriterium für eine zerebrale Beteiligung bei Borreliose ist) und eine “Kernspin” des Gehirns keine Entzündungsherde zeigte. Die im Anamnesegespräch berichteten Schmerzen in Brust- und Schienbein, Taubheitsgefühle und Kribbeln in Fingern, Armen und Händen, Glieder- und Körperzuckungen, Schlafstörungen und Atemstillstände (Apnoe) sowie die zur gleichen Zeit aufgetretenen Depressionen, Angstzustände und Panikattacken, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen fielen demgegenüber diagnostisch nicht ins Gewicht bzw. wurden orthopädisch oder psychogen erklärt. “Kein Hinweis auf Neuroborreliose. Ich rate von weiterer Therapie ab. Gehen Sie besser wieder arbeiten”. So werden Kranke entmündigt und Genesungschancen verpasst. Spätestens seit unter einer zweiten und längeren antibiotischen Infusionstherapie bei einem der wenigen deutschen Borreliose-Spezialisten, Dr. Joachim Ledwoch (Hannover), die psychischen und mentalen Störungen des Patienten binnen weniger Tage und die körperlichen Missempfindungen allmählich verschwanden, waren die drei nervenärzlichen Begutachtungen ad absurdum geführt: “außer Spesen nix gewesen”.

Besonders tückisch in der Borreliose-Therapie sind die “Restbeschwerden”. Tatsächlich können bestimmte Symptome noch Monate oder gar Jahre nach Beendigung der Infektion bestehen bleiben, da sich Nervenzellen – wenn überhaupt – nur sehr langsam regenerieren und der Körper insgesamt durch Krankheit und Therapie geschwächt ist. Zudem sinkt der Antikörpertiter im Blut meist erst nach etwa einem halben Jahr deutlich und die sogenannten “Banden” im Westernblot verschwinden manchmal erst lange nach dem Ende der Infektion. Folglich kann mindestens monatelang nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob es sich um Zeichen weiterer Borrelien-Aktivität oder nur um “Serumnarben” handelt. Wäre ersteres der Fall, müsste man aber einen erneuten Therapiezyklus mit veränderter Medikation, Dosierung oder Dauer in Betracht ziehen, um ein Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Immer wieder werden jedoch Patienten von Ärzten, die das Scheitern der von ihnen verordneten Therapie nicht eingestehen wollen, als geheilt, “austherapiert” oder als psychosomatischer Fall deklariert; dabei dürfte das Arzneimittelbudget bei Kassenpatienten im Hintergrund eine Rolle spielen. Manche Kassen verweigern schlicht die Fortsetzung bzw. Wiederholung einer teuren Infusionstherapie, so dass Borreliosepatienten regelrecht um diese Behandlung betteln müssen.

Erschrocken von soviel Ignoranz und Arroganz und angesichts des Versagens zu später oder zu kurzer Antibiosen (die richtliniengemäßen 2-3 Wochen reichen nämlich oft nicht), wenden sich viele Borreliosekranke irgendwann Heilpraktikern zu. Diese erklären Antibiotika regelmäßig zu Teufelszeug, haben aber selbst außer Immunstimulanz-Therapien (v.a. Eigenblutinjektionen, “Sanum”-Therapie, Darmsanierung, Vitaminergänzungspäparate) nicht viel anzubieten. Diese sind als Begleitbehandlung bei Borreliose grundsätzlich sinnvoll, können aber auch (wie “Echinacin”) aus der Infektion erwachsende Autoimmunprozesse gefährlich verstärken.

Generell gilt: Bei so schweren Krankheiten wie Borreliose ist einfach “kein Kraut” gegen den Erreger gewachsen.

Das musste etwa ein Borreliosepatient erfahren, der in einer Klinik für Chinesische Medizin fünf Wochen mit Kräuterdekokten und Akupunktmassagen “therapiert” wurde, ohne dass sich sein Zustand wesentlich verbessert hätte. Im Entlassungsbericht fanden die frustrierten Naturheilkundler nur den Ausweg, den Patienten unverschämterweise zum Hypochonder zu erklären: “Leidet sehr an der Vorstellung einer aktiven Borreliose”. Ein beim Spezialisten veranlasster Lymphozytentransformationstest ergab kurz darauf: “starke Aktivität gegen alle drei Borrelienstämme weist auf aktive Borrelieninfektion hin”.

Die rechtzeitige Erkennung und richtige Behandlung der Borreliose leidet somit nicht nur an fehlender Fortbildung, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vieler Ärzte, sondern auch an fachideologischer Voreingenommenheit und Beschränktheit von Internisten, Neurologen und Naturheilkundlern, die nicht zu einer schablonenfrei patientengerechten Anamnese und integrativen Therapie mit bakterioziden und immunstärkenden, schul- und alternativmedizinischen Mitteln fähig und bereit sind. Tugendethisch gesprochen fehlt es wohl an der nötigen Demut vor der ärztlichen Herausforderung durch eine komplexe Krankheit, welche wie vielleicht wenige andere Lernbereitschaft, Patientenorientierung und ggf. kollegial koordiniertes Vorgehen verlangt. Völlig unnötig wird dem Patienten eine ärztliche Souveränität vorgegaukelt, wo tatsächlich vorsichtiges Abwägen, Nachfragen und auch das Eingeständnis eigener Kompetenzgrenzen ehrlicher wäre. Schließlich gibt es bei jeder Krankheit mindestens zwei Experten: den Arzt mit seinem Fachwissen und den Patienten mit seiner Körperwahrnehmung. Dies wird von manchen “Göttern in weiß” offenbar kognitiv und habituell verkannt. Hat sich der Arzt geirrt – wie in den vielen Fällen einer versäumten Borreliosediagnose oder einer unzureichenden Therapie -, ist dies für ihn nur eine ärgerliche oder peinliche Episode, die ein wenig am “Ego” kratzen mag, aber morgen wieder vergessen ist; für den Patienten bedeutet der Irrtum womöglich ein ruiniertes Leben.

Fehlreaktionen des sozialen Umfelds

Aufgrund einer Reihe von Besonderheiten ihres Leidens erleben Borreliosekranke auch in ihrem sozialen Umfeld fast regelmäßig Schwierigkeiten und Enttäuschungen:

  • 1.
    Die (zunächst häufige) Unsichtbarkeit und Unkenntnis der Krankheit erleichtert Missverständnisse und Verdächtigungen. Zum Schaden des körperlichen Leidens kommt der Spott der “Hypochondrie”.
  • 2.
    Die meist lange Dauer der Krankheit und erst recht ihre Chronifizierung belastet die familiären, sozialen und ggf. beruflichen Beziehungen.
  • 3.
    Die psychischen Symptome – Depression, Angstzustände, Überreaktionen, Aggressivität – verstärken noch die Gefahr des Unverständnisses und der Isolation.
  • 4.
    Durch körperliche und ggf. auch mentale Beeinträchtigungen müssen erbauliche und sozial verbindende Hobbys, Urlaubs- und Vereinsaktivitäten aufgegeben werden.
  • 5.
    Je länger die Krankheit dauert und je schwer sie ausgeprägt ist, desto wahrscheinlicher werden finanzielle Probleme durch Arbeitsunfähigkeit und hohe Therapiekosten.
  • 6.
    Bei mehrfachem Therapieversagen und Verstärkung oder Verbreiterung der Symptomatik entsteht zwangsläufig die Angst vor Siechtum und Tod. Schon allein das Bewusstsein, einen gefährlichen Erreger trotz größter Anstrengungen nicht “abgeschüttelt” zu haben, kann quälen wie das Bangen eines Krebskranken, wieder ein Rezidiv zu bekommen – zumal jede weitere Therapie schädliche Nebenwirkungen zeitigt.

In dieser Situation wären eigentlich höchste Sensibilität, Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme, theoretische (z.B. zum Verstehen der Krankheit) und praktische Hilfe gefordert. Doch was im Normalfall zu solch zugewandtem Verhalten gegenüber einem Menschen motiviert, nämlich seine Liebenswürdigkeit oder die Gegenseitigkeit des Nutzens, wird gerade durch die Krankheit (scheinbar oder wirklich) zunichte gemacht. Die meisten Kranken finden sich schließlich allein mit jenen ganz wenigen Menschen wieder, von denen sie bedingungslos – oder “aus sicherer Entfernung” ziemlich konsequenzlos – geliebt werden. In eine “Spaßgesellschaft” passen sie jedenfalls nicht. Der Aktionsradius ist krass reduziert und selbst die Ernährung aus therapeutischen Gründen meist eingeschränkt (Alkohol, Koffein, Zucker, Fett).

Fast jeder Borreliosepatient in der Paracelsusklinik Hannover weiß vor diesem Hintergrund von Enttäuschungen durch Freunde, Kollegen und zum Teil engste Familienangehörige zu berichten: “Solange Du keine Schmerzen hast, dass Du Dich krümmst, stell Dich doch nicht so an!”; “Hat man überhaupt jemals bei Dir den Erreger selbst nachgewiesen?”; “Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, ich hab’ in letzter Zeit soviel zu tun”; “Du bist doch schon seit drei Jahren krank, das reicht mir”; “Wieso kommst Du nicht mit in die Sauna?”; “Du warst schon immer psychisch labil”; “Lange können wir sie nicht mehr bei uns beschäftigen”; “Ich kenne mehrere, die sind dann an Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben”. Fortgesetzte Takt- und Verständnislosigkeiten können zusammen mit den körperlichen Leiden durchaus Suizidneigungen wecken.

Am häufigsten im Fehlverhalten sind wohl Desinteresse und die Tendenz zur (wohlmeinenden) Entmündigung, in mancher Beziehung auch zur Verschiebung der “Machtverhältnisse” unter Ausnutzung der Schwäche des Erkrankten. Ressentiments werden mit der Krankheit verquickt und alte “Rechnungen” beglichen. “Nur dort wirst du geliebt, wo Du Dich schwach zeigen kannst, ohne Stärke zu provozieren” formulierte Adorno den Lackmustest der Liebe – viele chronisch Kranke erfahren das eindrücklich. Die Misere beginnt beim den Pflegekräften in den Kliniken. Dort wird regelmäßig über Personalmangel geklagt, aber zwischen den Stoßzeiten des Tagesbeginns und der Essensausgabe stundenlang im Aufenthaltsraum “geklönt”, statt sich mal einige Minuten am Krankenbett dem Befinden oder der Geschichte eines Patienten zu widmen. “Herzensbildung” steht bei diesem Beruf nicht auf dem Ausbildungsplan und kann aus Erziehung und Schulbildung leider nicht mehr vorausgesetzt werden. Freilich bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel, und an denen sollten sich Kranke aufrichten.

Selbstverantwortung des Patienten – Krankheit als Chance

Es mag “abgegriffen klingen”, doch es bleibt war: Auch schwere und psychisch zermürbende Krankheiten wie die Borreliose bergen Chancen erfüllten Lebens. Notgedrungen lernt man, sich mehr am Kleinen und Einfachen zu erfreuen: ein sonniger Morgen, ein vorwitziger Vogel auf dem Balkon, ein schmackhaftes Essen, eine gut geschlafene Nacht, ein herzliches Telefongespräch; plötzlich gewonnene Zeit, vielleicht zum Nachlesen alter Tagebüchern und Briefe oder zum Kleben von Fotoalben – mit all den aufkommenden Erinnerungen, die Anstoß zur Wiederaufnahme eines Kontakts geben; gymnastische oder meditative Übungen zur Erfahrung und Wertschätzung des eigenen Körpers; gemütliche Zeitungslektüre und Ansporn zu einem Leserbrief; Wiederentdeckung des Gebets und des Relativen allen irdischen Glücks; Dankbarkeit für die Zuwendung und Fürsorge derer, die einen lieben; Bewusstwerdung der Verantwortung, andere über eine vermeidbare Krankheit aufzuklären, solidarischer Erfahrungsaustausch und gegenseitige Beratung unter Mitpatienten. In den vielen entstandenen Selbsthilfeinitiativen für Borreliosekranke wird Großartiges geleistet und manches Defizit an ärztlicher Kompetenz ausgeglichen.

Borreliose kann im Gegensatz zu manch anderer schweren Krankheit auch noch nach Jahren durch die beharrliche Stärkung der körperlichen und seelischen Kräfte und die richtige Therapie zum richtigen Zeitpunkt geheilt oder in ihren Beschwerden gelindert werden. Niemand sollte die Selbstheilungskräfte seines Körpers unterschätzen. Insofern macht sie trotz allen Auf’s und Ab’s selten ganz hoffnungslos. Die wichtigsten Tugenden des Patienten sind Disziplin, positives Denken und Geduld. Wesentlich für die Heilungsaussichten sind daneben die dringend verbesserungsbedürftige medizinische Kompetenz und die sozialen Lebensumstände, zuvörderst ein harmonisches Klima des Verständnisses, der Zuwendung und der praktischen Solidarität – kurzum eine Atmosphäre der Liebe. Die Zeiten dafür mögen in unserer Gesellschaft nicht die besten sein. Doch auch diesen Teil der Wirklichkeit kann man in gewissen Umfang individuell gestalten. So können Schutzräume entstehen, in denen es sich auch unter widrigsten Umständen zu leben lohnt.

Dr. phil. Andreas Püttmann *, Jg. 1964, ist Politikwissenschaftler, Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung (z. Zt. i.R.), Publizist und Mitglied der 2004 gegründeten Borreliose-Gesellschaft.

Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andreas Püttmann

Dr. Andreas Püttmann

Eine teuflische Krankheit
Dialog in der Hölle

Oberteufel: Was hast Du Dir als Dein Meisterstück ausgedacht, Unterteufel?

Unterteufel: Eine neue Krankheit, die die Menschen an Gott verzweifeln lässt.

O: Aber da haben wir doch schon einiges: Krebs, Aids, Syphilis, MS, ALS, Parkinson, Depressionen ….

U: Aber die sind alle schon erkannt, im Gesundheitswesen etabliert und werden von Heerscharen von Pharmazeuten und Medizinern erforscht und bekämpft ” sogar mit einigem Erfolg. Die Syphilis zum Beispiel ist fast ausgerottet und antibiotisch gut heilbar. Aids gilt dank neuer Medikament fast schon als chronische Krankheit, mit der man leben kann. Wer betroffen ist, genießt Mitleid und die Solidarität gut organisierter Beratungs- und Selbsthilfeorganisationen, für die Prominente Spenden sammeln; in Medien und Schulen wird gewarnt und aufgeklärt, so dass man eine Ansteckung normalerweise vermeiden kann.

O: Und bei Deiner neuen Krankheit kann man das nicht?

U: Theoretisch vielleicht, aber praktisch fast nicht. Es reicht, sich draußen in der Natur aufzuhalten, die manche Menschen immer noch als “die schöne Schöpfung Gottes” bewundern. Man muss selbst sonst gar nichts tun, um sich die Krankheit zuzuziehen. Man merkt nicht einmal den fatalen Moment, wenn irgendwelche Kleinstlebewesen “ich dachte da an Spinnentiere oder Insekten” die Erreger übertragen. Und selbst die gesündesten und stärksten Menschen kann es erwischen.

O: Wie schnell sterben sie denn dann?

U: Sterben? Wieso? Lass die Menschen doch weiter an Krebs, Aids und MS sterben – die Opfer meiner Krankheit sollen vor allem gequält werden, ohne Erlösung im Tod zu finden. Aber eins versichere ich Dir: Viele von Ihnen werden sich den Tod früher oder später wünschen, so werden sie leiden. Einige bringen sich wahrscheinlich sogar um.

O: Wirklich teuflisch! Das gefällt mir. Eine Krankheit die nicht tötet, aber das Leben nimmt. So dass es kaum noch schreckt, es sich schließlich auch physisch zu nehmen. Das wird den “Gott des Lebens” unglaubwürdig machen! Allerdings wäre Todesangst auch keine schlechte Qual….

U: Man muss ja nicht ganz darauf verzichten. Wir lassen halt einzelne auch dran sterben, als abschreckendes, angstmachendes Beispiel. Aber bloß nicht zu viele, sonst setzen die Menschen wieder ihre ganze Forschungsmaschinerie in Gang und verwässern uns das Ganze früher oder später. Je später die Medizin den Ernst der Sache erkennt, desto besser – und übrigens auch der Kranke selbst. Das Leiden soll sich im Normalfall langsam einschleichen, bis es für effektive Therapien zu spät ist, wenn man es merkt.

O: Wir könnten ja auch noch auf andere Weise Verwirrung darüber stiften. Du weißt ja, dass ein guter Teufel ….

U: Jaja, ich weiss dass der Teufel ein “Diabolus”, ein “Verwirrer” sein soll. Das hast Du mir lange genug eingebläut.

O: Und wie hast Du es hier noch umgesetzt?

U: Vor allem durch die Vielfalt der Symptome und den wechselhaften Verlauf. Meine Krankheit kann sich völlig verschieden auswirken: Einige werden schwer krank, andere nur leicht; viele nur für eine Weile, andere für immer; manche werden gelähmt, andere herzkrank, viele andere verrückt, die meisten von Schmerzen, Missempfindungen, Kopfgeräuschen und Schwächeattacken terrorisiert; einzelne verlieren die Sehkraft bis zur Erblindung oder erleiden Entzündungen und Organschäden an Leber, Nieren und Bauchspeicheldrüse. Wenn nicht durch die Krankheit selbst, dann durch die Nebenwirkungen chemischer Therapien. Aber insgesamt werden nur wenige “etwa durch Gesichtsnervlähmungen” optisch entstellt, was natürlich die Diagnose erschwert und verzögert. Den meisten sieht man gar nichts an.

O: Wenn sie aber trotzdem schwer leiden und klagen …

U: … dann wird man Sie als Wehleidige und Hypochonder verspotten und als Simulanten beschimpfen! Diese “vermessene” etablierte Medizin lässt doch nichts gelten, was sie nicht messen kann. Mit seinem “Selig, die nicht sehen und doch glauben….” hat dieser verrückte “Heiland” bei den professionellen Heilern keine Chance! Die halten immer das, was sie derzeit erkennen und wissen, für die ganze und unumstößliche Wahrheit. Die pflegen ihre Dogmen doch verbissener als die Theologen. Aber meine neue Krankheit wird ein Fiasko für sie werden.

O: Naja – sie werden zumindest ein Fiasko für die Kranken daraus werden lassen, weil sie lieber alles abstreiten und verharmlosen als ihre Ohnmacht und Ratlosigkeit einzugestehen.

U: Aber nicht nur die Ärzte werden versagen, auch Verwandte, Freunde, Kollegen, Nachbarn. Gesunde Menschen können sich eh schwer in das Leid Kranker hinein versetzen. Und hier soll die soziale Dimension der Krankheit alles noch viel schlimmer machen als bei den anderen, etablierten schweren Leiden: Hier wird es für Leid kein Mitleid geben, sondern Unverständnis, mit all seinen familiären, beruflichen, finanziellen Folgen. Die Kranken werden in einen zusätzlich kräftezehrenden Kampf hineingetrieben.

O: Und das wiederum macht sie psychisch krank – also genau so, wie man es Ihnen ohnehin leicht unterstellt.

U: Genau! Allerdings nicht nur das: Die Krankheit soll bei vielen direkt auf´s Gehirn schlagen und dadurch auch ohne seelische Auslöser psychotisch, depressiv, aggressiv machen ” zumindest irritierend wesensverändernd wirken. Solche psychische Entstellung kann sich viel fataler auswirken als die physische. Sie wird die Betroffenen, die durch das schubartige Auf und Ab der Symptome eh schon zermürbt sind, in Mißverständnisse und Konflikte verstricken und einsam machen, wo sich doch dringend Geborgenheit und Hilfe brauchen.

O: Aber was, wenn die Medizin Deiner Krankheit doch schneller als erwartet auf die Schliche kommt?

U: Keine Sorge! Diese Trottel von Medizinern werden ihre Routineblutwerte erheben und darin in den meisten Fällen nichts Auffälliges finden. Dann werden sie die Patienten durchspiegeln und durchröntgen und natürlich nichts sehen, weil das Drama sich in Mikrostrukturen abspielt, in den Zellen, im Stoffwechsel, in den Lymphen ” lauter blinde Flecken der heute gängigen Medizin. Vor lauter Messbarkeitswahn und Schematismus haben die die Wahrnehmung des Kranken für den eigenen Körper total verdrängt. Man wird die Betroffenen je nach dem äußeren Erscheinungsbild in die Rheuma-, Arthrose- oder Psychoecke stellen. Viele werden wahrscheinlich unter “MS” eingeordnet und falsch mit Kortison behandelt – das schwächt ihre Abwehrkräfte noch mehr. Bevor vielleicht irgendwer merkt, was da wirklich los ist, sind große Teile des Körpers versaut. Und wo der keine Ausfallerscheinungen zeigt, wird man die Kranken in psychosomatische Therapien – der neueste Schrei der Medizin reicher Länder – überweisen und in Irrenhäuser stecken, wo sie erst recht nie geheilt werden. Ich verspreche Dir: Das wird ein Desaster für alle werden: für die Betroffenen, für die Medizin, für das Gesundheitswesen.

O: Moment – da es sich um eine Infektion handelt, wird man doch bald Abwehrreaktionen im Blut finden und die Krankheit bestimmbar machen. Und dann mit Antibiotika behandeln.

U: Ich habe an alles gedacht. Gegen Antibiotika sind diese Erreger – jedenfalls einige Varianten – ziemlich resistent. Außerdem wird der Erreger so beschaffen sein, dass er nicht bei allen Organismen die gleiche Reaktion auslöst und sogar häufig vom Immunsystem gar nicht erkannt wird. So wird es Infizierte ohne Antikörper in Blut und Nervenwasser geben – also “negativ” Getestete, die erkrankt sind; umgekehrt kann es auch “Positive” geben, die die Krankheit überwanden und trotzdem, wie bei einer Impfung, weiterhin Antikörper haben. Und solche “Serumnarben” wird man dann auch bei den tatsächlich Kranken unterstellen, so dass die gar keinen Beweis für ihre Krankheit haben.

O: Wird man denn die Erreger nicht direkt nachweisen können? Die Menschen haben doch ein Verfahren dafür entwickelt, nennen sie “PCR” oder so ….

U: Aber das misst nur die Spuren des Erregers in Blut oder Nervenwasser, und dies nicht mal zuverlässig. Die Sensitivität im Nervenwasser beträgt höchstens 10 bis 30 Prozent. Aus Gewebeproben oder Gelenkflüssigkeit kann man zwar Anzüchtungen versuchen, aber das ist fast genauso schwierig, aufwändig, unangenehm oder bei lebenden Menschen praktisch unmöglich zu realisieren. Wer würde sich schon eine Hirn-Biopsie entnehmen lassen?

O: Hahaha! Na Dir hat man offensichtlich alles im Hirn belassen. Wer sich noch so heimtückisch Perfides ausdenken kann…

U: Warte, es kommt noch besser. Die Erreger sind nicht nur in ziemlich geringer Dichte und so ungleichmäßig im Körper verteilt, dass es Zufall ist, wirklich befallenes Gewebe zu treffen. Wenn man das Glück hat, dauert es selbst mit den besten Mikroskopen meist sehr lange, bis sich die Parasiten finden lassen. Und sie können sich – besonders bei Antibiotika-Einwirkung – sogar von der typischen Spiralform in zystische Formen verwandeln, die praktisch unsichtbar und durch Medikamente kaum angreifbar sind.

O: Klingt perfekt. Na dann bring mal deine Krankheit auf die Erde und berichte mir.

(Stunden später…)

U: Chef, gib´s zu, Du hast es gewusst: Es gibt meine Krankheit schon auf der Erde!

O (grinsend): Bin ich allwissend? Ich bin doch nicht Gott! Wie verbreitet ist die Krankheit denn schon?

U: Es gibt bereits allein in Europa, wo ich war, Hunderttausende Betroffene, die meisten wie geplant unter falscher Diagnose, zum Beispiel MS und Alzheimer. Insassen psychiatrischer Kliniken sind mehr als doppelt so häufig infiziert wie der Bevölkerungsdurchschnitt, in Tschechien nach einer glücklicherweise ziemlich unbeachteten und folgenlosen Studie zum Beispiel 30 Prozent. Aber die vermeintlich seelisch Kranken werden natürlich mit Psychopharmaka behandelt, die die Ursache nicht bekämpfen. Erste Medienberichte über Sterbefälle verhallen ohne Reaktion, von Medizin und Politik ignoriert. Suizide werden psychisch erklärt. Einzelne Ärzte, die vor der “Seuche des 21. Jahrhunderts” warnen und auf “Tortur” und “Martyrium” der Kranken hinweisen, werden zu Scharlatanen erklärt und von der Versicherungsbürokratie drangsaliert. Die Übertragung erfolgt übrigens meistens durch Zecken. Die meisten Menschen glauben aufgrund einer falschen Informationspolitik, man sei nur in bestimmten Gebieten gefährdet und könne sich impfen lassen. Das gilt aber nur für eine andere Zeckenkrankheit, die viel, viel seltener ist. Die Verwirrung hat also prima funktioniert.

O: Das war ja auch mein Meisterstück!

U: Dass Du mich so reinlegen würdest ….

O: Wieso reinlegen? Ich wollte nur sehen, ob du meiner Bosheit ebenbürtig bist. Schon vor Jahrzehnten habe ich den Erreger, der ja dem Syphiliserreger ähnlich ist, auf die Erde gebracht, als die Syphilis ihren Schrecken verloren hatte. Erst 1982 entdeckte ein gewisser Willy Burgdorfer die schraubenförmige Bakterie. Deshalb nannten die Mediziner sie “Borrelia Burgdorferi”…

U: … und die Krankheit “Borreliose”. Viele Ärzte können aber nicht mal den Namen korrekt aussprechen oder schreiben. Stell Dir vor: Gegen die im therapierbaren Frühstadium häufig – zur Verwirrung aber nicht immer – auftretenden Hautrötungen verschreiben sie Salben! Lächerlich. Und die antibiotischen Therapieempfehlungen der Informierteren differieren von 10 Tagen bis 18 Monaten. Es herrscht diagnostisch und therapeutisch völliges Chaos. Die Krankenkassen und Rentenversicherungen nutzen das aus und verweigern vielen Betroffenen Behandlungskosten, Krankengeld und Rente.

O: Die Medizin und ihre Bürokraten sind eben noch genau so verwirrt, wie wir es diabolisch inszeniert haben. Jedenfalls bist Du einer Oberteufels-Ehre würdig! Glückwunsch zur bestandenen Prüfung!

U: Na in Dir habe ich wieder mal meinen Meister gefunden. Komisch nur, dass die Menschen trotz all des Leids immer weniger an den Teufel glauben. Stattdessen machen viele Verzweifelte Gott verantwortlich.

O: Genau das ist ja unser Ziel.

U: Allerdings bleibt unterschwellig, zumindest sprachlich, eine gewisse Intuition für unser Wirken erhalten: Im Brief an einen Borreliose-kranken Freund schrieb ein deutscher Politiker, es handele sich nach der Einschätzung seines Arztes um eine “teuflische Krankheit”.

O: Ein nettes Kompliment! Aber bis das alle begriffen haben, haben wir noch viel Zeit, neue Pläne für ein Stück Hölle auf Erden zu schmieden.

Dr. phil. Andreas Püttmann *, Jg. 1964, ist Politikwissenschaftler, Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung (z. Zt. i.R.), Publizist und Mitglied der 2004 gegründeten Borreliose-Gesellschaft.

Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andreas Püttmann

Dr. Andreas Püttmann “Psychoneuro” Heft 2005/31

Diagnosekriterien der Lyme-Borreliose:
Wie nagele ich einen Pudding an die Wand?

Für eine Ausweitung des Blickwinkels vom Erreger- bzw. Antikörpernachweis auf andere, typischerweise mit LB assoziierte pathologische Messwerte

Ein grundlegendes therapeutisches, psychosoziales und sozialmedizinisches Problem von Borreliose-Kranken besteht im laborchemischen oder radiologischen Nachweis ihres Leidens, zumal bei unspezifischen, changierenden und unterschiedlich ausgeprägten Symptomen, in deren “Licht” die Laborbefunde gedeutet werden sollen. Mediziner, die für ihr Fach den Anspruch einer exakten (Natur-)Wissenschaft erheben, sehen sich hier vor das Problem gestellt, “einen Pudding an die Wand zu nageln” bzw. einem Pudding (Laborbefund) durch einen anderen (Symptomatik) Halt geben zu sollen. Im “günstigen” Fall kann dies für den Patienten auf eine Ausschlußdiagnose hinaus laufen (vergleichbar dem CFS). In der Regel tendieren Ärzte, deren infektiologische Ausbildung infolge des Antibiotika- und Impfoptimismus jahrzehntelang vernachlässigt wurde, eher zur Psychosomatisierung oder Psychiatrisierung der Infizierten.

Dass Borreliosen sich häufig phänotypisch als psychische Erkrankung – Depression, Angststörung, Psychose, Wesensveränderung, Aggressivität – darstellen (vgl. Fallon B et al, 1992), lädt zu ihrem Mißverständnis als psychogenes Leiden geradezu ein. Die Beispiele für “psychiatrische Karrieren”, die sich erst nach Jahren als infektionsbedingt herausstellten und dann mit zumindest partiellem Erfolg antibiotisch behandelt wurden (wie in der Praxis des Bonner Neurologen und Psychiaters Dr. Dietrich Rosin), sind zahlreich. Bezeichnenderweise deckte eine tschechische Studie (Hayek et al, 2002) vor wenigen Jahren auf, dass die Durchseuchungsrate mit Borrelia unter Patienten psychiatrischer Kliniken mit rund 33 Prozent fast doppelt so hoch war wie in der Gesamtbevölkerung (19%) – und dies wohl kaum, weil psychisch Kranke doppelt so oft von infizierten Zecken gebissen werden, sondern umgekehrt: weil Borrelieninfektionen häufig – und unerkannt – psychisch krank machen.

Besonders rabiat gegen Borreliosekranke treten nach der Beobachtung erfahrener Berater der Selbsthilfeinitiativen Nervenärzte auf, deren diagnostischer Horizont sich auf neurologische Funktionsdiagnostik, EEG, Liquoruntersuchung und Hirn-CT bzw. MRT beschränkt. Springen keine motorischen, morphologischen oder gravierenden kognitiven Defizite ins Auge, gilt das Nervensystem als biologisch gesund und allenfalls durch psychische Einflüsse beeinträchtigt. Diese Sicht scheint durch die häufige Zweitqualifikation als Psychiater und den zeittypischen Psycho-Boom begünstigt zu werden. Schulpsychologin Monika Huesmann (Olpe) karikiert die Versuchung ihrer Zunft mit dem “Motto: Wer einen Hammer hat, für den ist bald jedes Problem ein Nagel”.

Dass die Medizin bei der Erforschung des Nervensystems oder auch des Stoffwechsels noch weit hinter den eindrucksvollen Fortschritten anderer Fachrichtungen wie Chirurgie und Transplantationsmedizin zurückbleibt, scheint bei Praktikern an der Basis oft gar nicht bewußt zu sein. Funktionsweise und Störungsanfälligkeit des menschlichen Gehirns sowie seine Interdependenzen mit Immunsystem, Hormonen und Organfunktionen, geben – trotz der in letzter Zeit häufiger vermeldeten Entdeckungen – noch immer mehr Rätsel auf als gesicherte Erkenntnisse bestehen.

Leider wird dies in der neurologischen und sozialmedizinischen Praxis offenbar noch weitgehend ignoriert. Man hält sich an das, was die Lehrbücher (zur eigenen Studienzeit?) festlegten und findet zwischen vollen Wartezimmern, drangsalierender Bürokratie und wucherndem Betriebswirtschaftsdenken kaum Zeit zur gewissenhaften Einzelfallrecherche und Fortbildung. Fände und nähme man sich die Zeit, würde man schnell erkennen, dass “Erreger im Aufbruch” (FAZ vom 23.7.03) die hiesige – früher nur von Aids erschütterte – infektionsmedizinische “Alles im Griff”-Illusion längst überrollt haben. Die Rückkehr von Syphilis und TBC, die Ausbrüche von Ebola, SARS und Vogelgrippe, die Entdeckung eines besonders aggressiven HIV-Virus sowie von insgesamt zunehmenden Erreger-Resistenzen sollte – berufsethisch betrachtet – eigentlich bescheiden und vorsichtig im Behaupten von Sicherheiten und im konkreten Urteil machen.

Betroffene einer Borrelien-Infektion merken davon jedoch erstaunlich wenig. Obwohl aufgrund chronifizierter Borreliosen in ganz Deutschland und Europa Selbsthilfegruppen entstehen und wachsen – immer ein Zeichen unzureichender bzw. gescheiterter medizinischer Hilfe -, verkündete beispielsweise der ZDF-Teledoktor noch 2004, dass Borreliosen in jedem Stadium leicht antibiotisch heilbar seien. Monate später stellte der gleiche Sender (“Frontal”) aber den Fall eines 32jährigen Leistungssportlers vor, der nach einer Borrelieninfektion und angeblich “ausreichender” antibiotischer Therapie innerhalb von zwei Jahren dahinsiechte und schließlich um 20 kg abgemagert an “Herz-Lungen-Versagen” starb. Eine andere Ursache als die vermeintliche “Modekrankheit” Borreliose fand man nicht. Obwohl auch in Schwerpunktpraxen und Selbsthilfegruppen von Todesfällen berichtet wird, behauptet die herrschende Lehre weiterhin, dass Borreliosen nicht töten – und dass Infizierte mit 3-4 Wochen Ceftriaxon- oder Cefotaxim-Infusionen “ausreichend therapiert” seien. Wer danach über eine Rückkehr oder Persistenz der Beschwerden klagt, dem wird günstigstenfalls ein “Post-Lyme-Syndrom” zuerkannt. Meistens landet er in der Simulanten- oder Psychoecke (Hypochondrie, anankastische Neurose etc.). Dass mehrmals selbst nach monatelangen Langzeitantibiosen noch die Anzüchtung von Borrelien aus Biopsiematerial gelang, wird nicht zur Kenntnis genommen oder durch die pure Behauptung verdrängt, da könne es sich nur um eine Neuinfektion handeln. Motto: “Wenn unsere Ideen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen – Pech für die Wirklichkeit!”

Angesichts der Bagatellisierung ihrer Krankheitssymptome und der (zunächst) meist unauffälligen Routinelaborwerte klammern sich seropositive LB-Kranke (es gibt auch Non-Responder und verzögerte humorale Abwehrreaktionen!) an immer neue, kostspielige Serologien und versuchen aus Antikörpertitern und Westernblots Belege für die vermutete Persistenz der Infektion oder Aufschluß über ihren Verlauf zu gewinnen. Diese “Beweise” werden ihnen, zumal wenn der IgM-Titer negativ ist (im Stadium II/III aber die Regel), von Gutachtern regelmäßig als “Serumnarben” oder “Durchseuchungstiter” aus der Hand geschlagen, wobei die Symptomatik dann doch wieder nicht – wie es der Laborkommentar meist fordert – zur Deutung des Befundes herangezogen wird.

Der beliebte sprachliche Kunstgriff einer “durchgemachten” Borrelieninfektion insinuiert, was sich wissenschaftlich nicht belegen läßt: dass das Infektionsgeschehen abgeschlossen sei (sein müsse) und allenfalls “Restbeschwerden” weiter bestünden. Laborgläubige Messbarkeitsoptimisten behaupten zwar, mit der Polymerasen-Kettenreaktion (PCR) über ein Ausschlußkriterium für die Erregerpersistenz zu verfügen. Doch dieser Glaube wird selbst von dem für seine extrem restriktiven Diagnosekriterien berüchtigten Münchener Max von Pettenkofer-Institut (Nationales Referenzzentrum Borrelien) – jedenfalls für Blut und Urin – zurückgewiesen; für Haut- und Liquorproben sei die PCR etwa so (un-)zuverlässig wie die Kultur und nur bei Gelenkpunktat überlegen. Nach den offiziellen Qualitätsrichtlinien MIQ 12/2000 beträgt die Sensitivität aus Liquor nur 10-30 Prozent. Falsch negative Ergebnisse sind schon aufgrund einer vergleichsweise geringen Erregerdichte (erst recht nach initialer Antibiose) und wegen der Zusammenlagerung von Borrelien an wenigen Körperstellen zu erwarten, von den Anforderungen an Transport(zeiten) und labortechnische Expertise ganz zu schweigen.

Gleiches gilt für den Lymphozytentransformationstest (LTT), mit dem etwa das Berliner Institut für Medizinische Diagnostik (IMD) die Stimulation von T-Zellen durch gereinigte Borrelienantigene und damit indirekt die Erregeraktivität misst. Allgemein akzeptiert ist die Methode allerdings nicht. Eine Mehrheit der Experten ging bisher davon aus, dass der LTT auch unspezifische Immunprozesse anzeigen könne. Professor Rüdiger von Baehr verweist dagegen auf methodische Verfeinerungen in den letzten Jahren und auf eine Studie des IMD, die eine hohe Übereinstimmung (76%) von LTT-Befund und Serologie ergab; Abweichungen ließen sich durch die Zusammenschau mit Anamnese und Symptomatik leicht erklären (negativer LTT/positive Serologie nach erfolgreicher Therapie mit “Serumnarbe” – negative Serologie/positiver LTT in der Frühphase der Infektion – meist mit EM – sowie bei rund 5% Non-Respondern). An der “Basis” herumgesprochen haben sich diese Erkenntnisse aber offenkundig noch nicht: In einem Artikel der “Medical Tribune” vom 24.3.2005, der auf Vorträgen einer Ärztefortbildung zur Borreliose beruht, wurde der LTT gar nicht erwähnt.

Wie man es auch dreht und wendet: Letztlich kann man durch die verfügbaren Bluttests nur beweisen, dass eine Borrelien-Infektion stattgefunden hat. Auch Liquoruntersuchungen liefern kein sicheres Kriterium für eine floride Infektion, da bei klarer Anamnese (Zeckenbiss, Erythema Migrans), stark positiver Serologie (Elisa mit hochspezifischen Banden im Westernblot) und ausgeprägt neurologischer Symptomatik oft unauffällige Liquorbefunde (30-40%) beobachtet werden, ohne dass eine diagnostische Alternative erkennbar wäre, die über das “Post-Lyme-Syndrom” als Verlegenheitsdiagnose hinaus ginge. Der amerikanische LB-Pionier Burrascano berichtete 2002 sogar: “Selbst im Falle einer Lyme-Meningitis sind Antikörper im Zentralnervensystem in weniger als 20% der Patienten mit einer Spätborreliose nachweisbar”. In einer Schweizer Studie (A. Kohler et al. 1999) waren nur bei einem Viertel der Neuroborreliose-Patienten mit einer Facialisparese im Liquor Abnormalitäten zu finden. Über allgemein akzeptierte, zuverlässige laborchemische Aktivitätsparameter von Borrelieninfektionen verfügt man also nicht. Und die schwierige Anzucht aus Biopsiematerial ist in den vielen neurologischen Fällen ohne Haut- und Gelenksmanifestation kaum möglich oder zumutbar.

Nun wäre es aber wissenschaftstheoretisch verfehlt, eine vom Patienten geklagte Krankheit – zumal eine Infektion – nur im Falle ihrer Verifikation durch zuverlässige laborchemische oder bildgebende Verfahren als real anzunehmen, solange solche Verfahren gar nicht zur Verfügung stehen. Ebenso gut ließe sich dagegen nämlich vertreten, dass bei klarer Anamnese, Symptomatik und Serologie die Diagnose nur durch Falsifikation verneint werden könnte. Letztlich wird die Medizin wie die Juristerei den Täter eben nicht immer “in flagranti” erwischen bzw. durch Beweisfotos, DNA-Spuren oder Fingerabdrücke überführen können und sich daher auf einen Indizienprozess verlegen müssen. Solche Indizien könnten bei einer systematischen Sammlung und Auswertung von Patientendaten viel mehr als bisher pathologische Befunde sein, die nicht auf einen Erregernachweis abzielen, sondern auf das, was der Erreger im Organismus durcheinander bringt.

Einige Beispiele: Der deutsch-amerikanische Arzt Dietrich Klinghardt, ein Meinungsführer der Naturheilkunde und “Ganzheitsmedizin”, der chronische Borreliosen für “die Seuche des 21. Jahrhunderts” hält, erwähnt als häufige LB-Begleiterscheinung eine mäßige Leukopenie, hohe Elisa-Werte der Herpesviren, erniedrigte Serum-Aminosäuren, Mineralienverarmung, eine niedrige alkalische Phosphatase und eine verminderte Konzentration des Urins (niedriges spezifisches Gewicht), erniedrigtes DHEA und Testosteron sowie hohes Cortisol, eine pathologische Veränderung der HDL/LDL-Relation bei Erhöhung des Gesamtcholesterins und erhöhte Triglyeride, also die “typische Kombination der Risikofaktoren für eine koronare Herzerkrankung” (h&j 2/2000). Auch erhöhte Leber- oder Pankreaswerte (ohne andere erkennbare Ursache) treten vermehrt auf -was jedoch auch Folge längerer oder häufiger Antibiosen sein kann. Aufschluß über eine chronische Grunderkrankung bietet ein Immunstatus, wobei die T4/T8-Ratio bei LB eher erhöht und die Komplemente (C3, C4) erniedrigt sind. Die Nähe dieser Befundkonstellation zur Lupus-Kriteriologie korrespondiert mit der Ähnlichkeit in der Symptomatik und könnte darauf hinweisen, dass nicht nur Chlamydien MS auslösen, sondern auch Borrelien wie Trepomena in bestimmten Organismen autoaggressive Prozesse provozieren. Schon mancher ursprünglich LB-Kranke ist nach jahrelangem Leiden trotz wiederholter Antibiosen schließlich in die Rubrik “Autoimmun” überwiesen und mit Immunsuppressiva weiter behandelt worden – mit unterschiedlichem Erfolg. Andererseits sind Fälle bekannt, in denen erst die vierte oder fünfte Antibiose Symptomfreiheit brachte.

Viel “Musik” scheint darüber hinaus in der Neuroendokrinologie zu spielen. In den Netzwerken der Selbsthilfe stießen LB-Kranke jedenfalls auf übereinstimmende Befunde wie erhöhte Prolaktinwerte und Schilddrüsen-Funktionsstörungen, veränderte Cortisol-Tagesprofile oder eine Hypophysenunterfunktion. Nuklearmedizinisch zeigt eine Hirn-SPECT (Single-Photon-Emission-Computer-Tomographie) bei mindestens der Hälfte der Patienten mit chronischer Borreliose Anomalien: “Die spezifische Erscheinung ist ein heterogenes Muster verminderter Perfusion. Das bedeutet, dass es quer durch das Gehirn fleckige Gebiete gibt, die wie verminderter Blutfluß aussehen. Wir wissen nicht, ob es ein vaskuläres oder ein Stoffwechselproblem ist. Aber was klar ist: Es ist ein weitreichendes Problem”, betont Brian Fallon (Doctors Guide, 24.10.1997). Bezeichnenderweise verbesserte sich der Blutfluß in den betroffenen Hirnarealen unter intravenöser antibiotischer Therapie. Die Gehirn-Anomalien, die auch bei Patienten mit HIV-Enzephalopathie, Lupus, CFS oder chronischem Kokainmißbrauch zu beobachten sind, scheinen also zumindest teilweise umkehrbar zu sein. Auffällig ist, dass die Depressionen bei Patienten mit Borreliose drei mal häufiger sind als etwa bei vergleichbar schweren Krankheiten. “Das war überraschend für uns, und es legt nahe, dass etwas im Gehirn von Lyme-Patienten vorgeht, dass die Depression direkt verursacht” (Fallon).

So kann zwar nach den rigiden Maßstäben der Verwalter der “reinen Lehre” immer noch keine floride Borreliose nachgewiesen werden. Wohl aber ließe sich durch den breiteren diagnostischen Blickwinkel ein ernstzunehmendes Krankheitsbild mit überprüfbaren Meßwerten belegen, deren gehäuftes Auftreten nach LB-Infektionen zur Verdichtung des Verdachts auf eine persistierende Infektion – jedenfalls aber auf eine chronische Krankheit – herangezogen werden kann. Für die Patienten wäre damit zwar noch keine Heilung erreicht, doch wenigstens die psycho-sozial entlastende Legitimation, wirklich krank zu sein – sowie der eine oder andere Ansatzpunkt für eine pragmatische, symptomatisch orientierte Therapie.

Mehr diagnostische Phantasie, Erfahrungsaustausch, Kooperation sowie statistische Erfassung und Auswertung von Patientendaten sind also gefragt bei Beschreibung und Nachweis der Lyme-Borreliose. Dabei mag es zwar nicht gelingen, “den Pudding an die Wand zu nageln”, doch vielleicht, ihn in einem Geflecht von Befunden so zu fassen, dass er schließlich – um im Bild zu bleiben – wie in einem Netz an die Wand gehängt werden kann. Spürbar grundkrank, aber ohne Diagnose “in der Luft zu hängen”, weil die wahrscheinlichste Ursache des Leidens dogmatisch bestritten wird, ohne eine alternative Erklärung zu bieten, die über Psycho-Spekulation hinausginge – diese Patientensituation mag zwar sparwütigen Kranken- und Rentenversicherungsbürokraten zunächst gelegen kommen. Doch für schwer und chronisch kranke Menschen mit bereits radikal reduzierter Lebensqualität ist sie auf Dauer unzumutbar.

Literatur:

– Fallon B et al: Neuropsychiatric manifestations of Lyme-borreliosis, Psychiatric Quarterly, Vol 63, No 1, Spring 1992.

– Hajek T et al: Higher Prevalence of Antibodies to Borrelia Burgdorferi in Psychiatric Patients Than in Healthy Subjects, American Journal of Psychiatry 159, 297-301, February 2002.

– Klinghardt D: Chronische Borreliosen – die Seuche des 21. Jahrhunderts, hier&jetzt 2/2000, 4-7.

– Kohler A et al: Cerebrospinal fluid in acute peripheral facial palsy, Journal of Neurology 1999, Mar;264 (3): 165-9 .

– Zacharias J: Das diagnostische Dilemma der Lyme-Borreliose, www.zecken-borreliose.de

(Übersichtsdarstellung einschlägiger Literatur mit zahlreichen Links)

Dr. phil. Andreas Pttmann *, Jg. 1964, ist Politikwissenschaftler, Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung (z. Zt. i.R.), Publizist und Mitglied der 2004 gegrndeten Borreliose-Gesellschaft.

Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andreas Püttmann

ANMERKUNG (Delfin):
Vor Dietrich Klinghardt muß DRINGEND gwarnt werden,
siehe “Die Akte Dietrich Klinghardt”

http://transgallaxys.com/~kanzlerzwo/index.php?board=86.0

Borreliose – im Kampf um die Deutungshoheit einer noch wenig erforschten Krankheit bleiben Anerkennung und Hilfen für die Kranken auf der Strecke. Unter den Betroffenen wachsen Ärger und Verbitterung über die Ignoranz vieler Ärzte und Versicherungsbürokraten gegenüber ihrem Leiden “Boriolose?” – Pech für die Wirklichkeit

Von Dr. Andreas Püttmann

Schlechte Zeiten für chronisch Kranke in Deutschland, noch schlechtere für solche, deren Krankheit noch nicht “etabliert”, oft nicht sichtbar, meßbar oder in bildgebenden Verfahren der Apparatemedizin darstellbar ist. Dieses Los haben Menschen mit Lyme-Borreliose gezogen, verursacht durch einen Zeckenbiß, bei dem die Spirochäte (schraubenförmigen Bakterie) Borrelia burgdorferi übertragen wurde.

Wer seine medizinische Ausbildung vor der Entdeckung des Erregers 1982 bzw. der noch späteren Aufnahme in die Lehrbücher absolvierte (also mehr als die Hälfte der Ärzte) und sich bei der Fortbildung auf die praxisrelevantesten “Volkskrankheiten” konzentrierte, wird Patienten mit dieser gefährlichen Krankheit mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch diagnostizieren und therapieren.

“Nur ein Drittel der Ärzte besitzt Grundkenntnisse über Borreliose”, beklagt Jürgen Peters, Vorsitzender des Borreliose-Bunds Deutschland. Angesichts der verbreiteten frappierenden Unkenntnis ist schon die richtige Schreibweise (statt “Borelliose” oder “Boriolose”) eine überdurchschnittliche Leistung.

Nicht immer verrät eine noch vorhandene Zecke oder die charakteristische Hautrötung (Erythema migrans) um die Einstichstelle das Verhängnis, und nicht selten wird selbst dieser Hinweis übersehen oder mit Salben falsch behandelt. So erreicht die anfangs leicht – durch mindestens drei Wochen Antibiotika (Doxycyclin) – heilbare Krankheit oft ihr zweites und drittes Stadium (systemische Generalisierung und Spätmanifestation), in denen Gelenke, innere Organe, Nervensystem und damit oft auch die Psyche schwer geschädigt werden können.

Das oft schleichende Fortschreiten der chamäleonhaft changierenden Symptomatik macht die Diagnose im Spätstadium keineswegs wahrscheinlicher, wenn nicht akute Zuspitzungen wie Gesichtsnervlähmung, Sehstörungen, Herzmuskelentzündung oder schwere Arthritis die Richtung weisen – je nachdem, wohin der “Schrotschuß” (Peters) der Infektion die Erreger im Körper geschwemmt hat.

Manche Borreliose wird erst nach einer jahrelangen Odyssee durch Arztpraxen verschiedenster Fachrichtungen oder nach einem Irrweg durch psychiatrische Kliniken erkannt, in denen – laut einer tschechischen Studie – der Anteil an Infizierten bezeichnenderweise etwa doppelt so hoch ist wie der “Durchseuchungstiter” der Gesamtbevölkerung, der auch von längst bewältigten Infektionen herrühren kann.

Vermutlich gibt es neben den rund 60.000 bis 100.000 Neuerkrankungen in Deutschland eine erhebliche Dunkelziffer von Patienten, die diagnostisch “unter falscher Flagge segeln”: Neben psychischen Erkrankungen aller Art – darunter neurotische Hypochondrie – Alzheimer, CFS (Chronisches Müdigkeitssyndrom), Fibromyalgie, HWS-Syndrom, Rheuma, Parkinson, Epilepsie, Multiple Sklerose. Für jede dieser Krankheiten gibt es Beispiele von Heilungen oder erheblicher Besserung nach Borreliose-indizierter Antibiotikatherapie.

Dr. Harald Bennefeld, Chefarzt der Heinrich-Mann-Klinik in Bad Liebenstein (Thüringen), hat unter Patienten, bei denen die Verdachtsdiagnose “MS” bestand, durch ausführliche Zusatzdiagnostik und anschließende Therapie, u.a. mit Antibiose, “schon einige aus dem Rollstuhl geholt”.

Dr. Dietrich Rosin, Bonner Neurologe und Psychiater, berichtet über Heilungen von jahrelanger Depression, in einem Fall sogar von diagnostiziertem “Parkinson”.

Systematisch gesammelt werden solche Fälle nirgends. Eine bundesweite Meldepflicht für Borreliose, die erregertypisch der Syphilis ähnelt, gibt es wohl deshalb noch nicht, weil die Krankheit nach derzeitigem Kenntnisstand – außer in der Akutphase von einer Schwangeren auf ihr Kind – nicht von Mensch zu Mensch übertragbar ist.

Ebenso wenig gibt es umfassende Statistiken der Erfolgsraten unterschiedlicher Therapieschemata – gerade diese könnten aber Ärzten und Betroffenen eine praktische Orientierung geben. Denn Recht hat schließlich, wer heilt – wogegen man in der deutschen Borreliose-Diskussion den Eindruck gewinnt, der Streit um Definitionen und Gesetzmäßigkeiten habe Vorrang vor der klinischen Symptomatik und der praktischen Hilfe.

So soll Patienten mit unzweifelhafter Borrelieninfektion (Zeckenbiss, Erythem, Serumantikörper) und folgenden neurologischen Beschwerden bzw. psychischen Veränderungen nach herrschender Lehre nur dann die Diagnose “Neuroborreliose” gegeben werden dürfen, wenn durch Punktion im Nervenwasser eine bestimmte Antikörper-Konzentration bzw. -Konstellation nachgewiesen wurde. Individualfälle, die vom Modell abweichen, kommen in diesem medizinischen Weltbild nicht vor.

Wieso sollte aber eine neurologisch-manifeste Borreliose nicht “Neuroborreliose” heißen? Eigentlich sollte der Name doch die Krankheit beschreiben und nicht einen Laborbefund.

Die “Expertise” des Patienten für seinen eigenen Körper wird in dieser Denkungsart schon gar nicht anerkannt. Was “eigentlich nicht sein kann”, das muss der Kranke sich einbilden oder gar simulieren. Und verweist der Patient selbst auf Laborwerte, lautet die Argumentation plötzlich genau umgekehrt wie bei der Neuroborreliose: “Entscheidend ist die klinische Symptomatik”.

So leicht lassen sich Borreliosen reihenweise diagnostisch “wegzaubern”: Wahlweise durch “wenig aussagekräftige” Laborwerte, durch Bagatellisierung bzw. Psychosomatisierung der Symptome oder schlicht durch den Hinweis: “Sie sind doch therapiert worden”. Eins von den Dreien – im Zweifel das Letzte – zieht immer.

Der deutsch-amerikanische Arzt und “Guru” der Naturheilszene, Dietrich Klinghardt hingegen nennt in einem Artikel (h&i 2/2000): “Chronische Borreliosen – die Seuche des 21. Jahrhunderts”, weil sie “in der westlichen Welt nach AIDS die am schnellsten zunehmende Infektionserkrankung” seien. Trotzdem würden sie “bisher von medizinischer Seite unterschätzt, da sie oft nicht töten, aber sie schränken das Leben der Betroffenen zunehmend ein und führen zu oft unglaublichem – und unnötigem – Leiden”.

Dazu gehört neben der körperlichen und seelischen Tortur der nicht enden wollenden Krankheit oft das Versagen des sozialen Umfelds, das Zerbrechen von Beziehungen durch Unverständnis und Überforderung, der Verlust des Arbeitsplatzes nach zunehmenden Fehlzeiten, und angesichts immer öfter verweigerter Frühverrentung durch sparwütige Versicherungsbürokratien nicht selten das Abrutschen in die Sozialhilfe.

Vertreter von Selbsthilfeinitiativen, die bundesweit und international fast die ganze Beratung am Telefon und im Internet leisten, sprechen nach Hunderten von Erfahrungsberichten von “menschlichen Trägödien für die Kranken und ihre Familien”, kämpferische unter ihnen von einem “Medizin- und Sozialskandal”. Doch Kampf fällt mit dieser Krankheit, unter der die meisten Engagierten selbst leiden, naturgemäß schwer. In der Regel führt sie eher zu einem stillen Rückzug aus der Öffentlichkeit.

“Borreliose tötet nicht, sie nimmt das Leben”, faßt eine Patientin ihre Situation in Worte.

Zudem wird die medizinische “Borreliosepolitik” in Deutschland weitgehend von einem Institut gelenkt, das chronische Borreliosen praktisch gänzlich in Abrede stellt. Das Münchener “Pettenkofer Institut” ließ sich vor einigen Jahren auf Eigenantrag zum “Nationalen Referenzzentrum” für Borrelien (Leitung: PD Bettina Wilske) erklären und verteidigt in der allgemeinen Ratlosigkeit über therapieresistente Krankheitsverläufe verbissen seine Deutungshoheit gegenüber Abweichlern in den ärztlichen Schwerpunktpraxen: “In den letzten Jahren finden sich zunehmend Berichte in den Medien, bei denen der Eindruck entsteht, die Lyme-Borreliose führe typischerweise zu chronischen, unspezifischen Beschwerdebildern (…:) Myalgien, Arthralgien, Dys- und Parästhesien, Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Konzentrationsstörungen nach korrekter antibiotischer Therapie mit empfohlenen Therapieschemata. Obwohl die Ursache dieser Symptome bislang unklar ist, wurden allein aufgrund der zeitlichen Assoziation dieser Symptome mit einer definierten Lyme-Borreliose der Begriff ‘chronische Borreliose’ oder ‘Post-Lyme-Syndrom’ geprägt (…), Therapieversuche mit längerer und höherer Dosierung durchgeführt und die vermeintlichen Therapieerfolge als Fallberichte und unkontrollierte Studien veröffentlicht (Donta et.al. 1997)”.

Andere Studien (Seltzer 2000, Klempner 2001) sprächen jedoch gegen diesen Zusammenhang und dafür, “dass keine erneuten Antibiotikagaben indiziert sind”. Demnach wäre eine einmalige, drei- bis vierwöchige antibiotische Infusionstherapie gegen die Infektion ausreichend – was sich die Krankenkassen natürlich gern zu eigen machen. Wer danach über zurückkehrende oder fortwährende Beschwerden klagt, gilt den Anhängern der Münchener Lehrautorität – und mit ihrer Gutachterposition auch vielen Gerichten – meist als “psychosomatisch krank”, seine mit den Beschwerden korrespondierenden, noch so hohen Antikörpertiter (und breit gefächerten “Westernblots”) werden als “Serumnarben” ohne diagnostische Relevanz abgetan. Allenfalls “von lebenden Borrelien unabhängige, sekundär autoimmune Pathomechanismen” (Prof. Peter Herzer, München) werden den chronisch Kranken noch als mögliche somatisch-medizinische Legitimation konzediert (wogegen nicht Antibiotika, sondern Immunsuppressiva indiziert wären).

Neuere Forschungsergebnisse (2003) vom Institut für Immunologie der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig deuten dagegen darauf hin, dass Borrelien “von der Spiralform in eine kugelförmige, stoffwechsel-inaktive Überlebensform wechseln können, wenn die Bakterien ungünstigen Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Diese Metamorphose könnte ein Grund dafür sein, dass die Borrelien letztendlich jedem Einsatz von Antibiotika widerstehen und nach dem Ende der Therapie erneut jene Entzündungsreaktionen hervorrufen, die sie so gefährlich machen” (PD Dr. Reinhard Straubinger, www.uni-leipzig.de/bbz).

Außerdem vermuten die Leipziger Forscher, “dass die Borrelien im Gewebe durch aktive Fortbewegung und nicht durch passiven Transport durch den Blutkreislauf an den Ort ihrer Wirkungsentfaltung kommen”. Dafür sprächen bereits die Rötung der Haut um die Bissstelle, die ersten Beschwerden in den Gelenken, die der Einbissstelle am nächsten liegen, und kein einziger bekannt gewordener Fall einer Übertragung durch Bluttransfusion sowie das Scheitern einer Infektion durch Injektion mit kontaminiertem Blut im Tierversuch. Andere Experten (wie der unter Naturheilkundlern verehrte Freiburger Arzt Dr. Hans Gustav Nolte) vermuten das Grundproblem des zunehmenden “Trigger-Phänomens” Borreliose eher in einer Belastung durch Umweltgifte, durch von der Infektion hinterlassene Neurotoxine oder durch den Komplikationsfaktor Koinfektionen (häufig mit Epstein-Barr- und Zytomegalie-Viren, Chlamydien und Candida-Pilzen), welche entweder Folge der durch die Grunderkrankung und lange Antibiosen hervorgerufenen Immunschwäche oder vorausliegende Ursache dafür sein könnten, dass die Borrelieninfektion nicht überwunden wird.

Die meisten Borreliosekranken versuchen es angesichts ihres Leidensdrucks und der nie kurzfristigen Erfolge naturheilkundlicher Therapieansätze dennoch mehrmals antibiotisch, wobei sich eine mindestens sechswöchige, evt. mehrfach wiederholte Tabletten-Kombinationstherapie (Roxithromycin und Trimethoprim) nach dem Grazer Spezialisten Professor Robert Gasser laut “Deutsches Ärzteblatt” (April 2003) als besonders wirksam (und kostengünstiger als stationäre Infusionstherapien) herausgestellt hat.

Der Gelsenkirchener Spezialist und Klinikchef Professor Claus Doberauer weiß allerdings von einer Patientin zu berichten, aus deren Hautbiopsie selbst nach einer (nicht von ihm verantworteten) einjährigen, intensiven Dauerantibiose noch Borrelien angezüchtet werden konnten.

Ist das Münchener Dogma von der ausreichenden Dreiwochenantibiose damit falsifiziert? Der internistische Rheumatologe Dr. Rüdiger Klütsch (Oberhausen) beobachtet jedenfalls, “dass die Antibiotika-Resistenz der Borrelien in zunehmendem Maße therapeutische Probleme aufwirft, da eine stetige Verschlechterung der Empfindlichkeit dieser Erreger festzustellen ist”, so dass in zahlreichen Fällen “von einer persistierenden Erkrankung auszugehen ist”.

Schon der Entdecker des Erregers, Willy Burgdorfer, betonte 2001: “Wir wissen, dass die Lyme-Borreliose Antibiotika widerstehen kann. Zu sagen, jemand sei geheilt, weil er eine bestimmte Menge Antibiotika erhalten habe, ist Unsinn”.

Für diese einfache Einsicht bedarf es allerdings des Abschieds vom Machbarkeitswahn, der mit der Ausrottung der großen Seuchen – jedenfalls der bakteriellen – auch die Infektionsmedizin befallen konnte.

Doch bestand in Deutschland, dem Heimatland der Glaubenskämpfe und politischen Ideologien, nicht schon immer die Tendenz zum Dogma und zu deduktiver Erkenntnistheorie, zum Primat der Ideen vor der Wirklichkeit?

Elisabeth Noelle-Neumann prägte für die Falsifikation von Hypothesen durch demoskopische Sozialforschung die geistreich-lapidare Sentenz: “Wenn wir überrascht sind, stehen wir vor der Wirklichkeit”.

Im Deutungskonflikt um die Borreliose scheint für die herrschende Lehre eher die Devise zu gelten: “Wenn wir überrascht werden, finden wir Gründe, warum es so eigentlich nicht sein kann”.

Für den Historiker Hagen Schulze ist dies jedenfalls ein typisch deutsches, fachübergreifendes Motto: “Wenn meine Ideen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, Pech für die Wirklichkeit”. Und für die in Wirklichkeit Leidtragenden, kann man im Blick auf die Opfer der Borreliose hinzufügen – die übrigens manchmal auch Todesopfer sind.

Aus einem Landesministerium ging vor wenigen Jahren ein Anruf bei einer Borreliose-Beratung ein: Bei der Obduktion mehrerer verstorbener Borreliosekranker seien regelrecht “zerfressene Herzmuskel” festgestellt worden; der Befund solle aber geheim gehalten werden, um keine “Panik” zu machen. Der Informant, selbst Naturwissenschaftler, wollte anonym bleiben. Vielleicht müssen erst – wie bei AIDS Rock Hudson – einige Medienprominente schwer erkranken, bevor sich die Kenntnis der Schrecken dieser “grausamen Krankheit” (Margrit Riemann, Ehefrau eines Borreliosekranken) verbreitet und die amtliche gesundheitliche Aufklärung die Borreliose als Desiderat entdeckt.

Hätte man endlich auch gegen diese “Zeckenkrankheit” eine Impfung, wie gegen die viel seltenere, aber bekanntere Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), dann könnte sich der Wind drehen, meint ein Insider aus der Pharma-Branche. Bis dahin gebe es zu mächtige finanzielle Interessen von Renten- und Krankenversicherungsträgern, denen eine Bagatellisierung der Borreliose als “Modekrankheit” gelegen komme. Ganz in diesem Sinne machte im letzten Sommer etwa der ZDF-“Teledoktor” einem Millionenpublikum weis, was schon eine große deutsche Qualitätszeitung in die Schlagzeile gefaßt hatte: “Unnötige Angst. Borreliose ist heilbar und trifft wenige”. Unter Berufung auf eine umstrittene amerikanische Studie (Klempner u.a.) hatte der Mikrobiologe Volker Brade von der Universität Frankfurt am Main den Journalisten versichert, “dass dieses chronische Lyme-Syndrom nicht durch irgendwo versteckt überlebende Bakterien verursacht wird. Denn die Langzeittherapie muß auch den letzten Erreger vernichtet haben” (Süddeutsche Zeitung vom 31.7.2001). Nur Pech, dass auch nach Langzeitantibiosen doch noch Borrelien angezüchtet werden konnten. Aber es ist ja nur ein Pech für die Wirklichkeit.

Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andreas Püttmann

ANMERKUNG (Delfin):
Vor Dietrich Klinghardt muß DRINGEND gwarnt werden,
siehe “Die Akte Dietrich Klinghardt”

http://transgallaxys.com/~kanzlerzwo/index.php?board=86.0

Dr. Andreas Püttmann

Missstände bei der fortgeschrittenen Lyme-Borreliose

Jahresversammlung und 1. Symposium der „Borreliose-Gesellschaft e.V.“ in Jena

Wer sich an diesem ungemütlichen Eis- und Schneewochenende nach Jena aufgemacht hatte, der kam zweifellos hoch motiviert zum ersten Symposium der 2004 gegründeten „Borreliose-Gesellschaft e.V.“ (BG). Bei vielen war diese Motivation der eigene Leidensdruck als Borreliosekranker oder bürokratisch und finanziell drangsalierter Arzt, bei anderen eher wissenschaftliches oder gesundheitspolitisches Interesse, vielleicht bewog im Einzelfall auch das Kalkül einer Marketingchance bei der wachsenden Klientel betroffener Patienten und Therapeuten zur Teilnahme. Jedenfalls waren die rund 50 Teilnehmer – mehrheitlich Mediziner, darunter Mitglieder der Bundesvereinigung Borreliose behandelnder Ärzte (BBÄ) – ein interdisziplinärer Kreis mit zum Teil recht bekannten und markanten Persönlichkeiten. Verbindendes Motto der aus der Not geborenen Avantgarde-Truppe: “Die Einzelkämpfer unterliegen immer der Meute”. Und Kampf ist für Ärzte wie Patienten mit persistierender Lyme-Borreliose (LB) das tägliche Brot.

Der Vorsitzende, Mathematikprofessor Dr. Hartmut Prautzsch (Waldbronn), definierte Sinn und Zweck der Neugründung durch den diagnostischen, therapeutischen und sozialmedizinischen Missstand bei der “fortgeschrittenen Lyme-Borreliose”, welche durch die kurz zuvor ins Rampenlicht getretene HIV-Problematik als Forschungsgegenstand und Gefährdung der Volksgesundheit verdrängt worden sei: “Niemand kümmert sich um die Leute nach der Standard-Antibiose”, die oft keine Heilung oder auch nur nachhaltige Besserung der Beschwerden bewirke, abgesehen von den Selbsthilfegruppen (was die BG nicht sein will) und den wenigen Schwerpunktpraxen mit chronischen Kapazitäts-, Legitimations- und Budgetproblemen. Die meisten Ärzte seien von dieser „Krankheit mit den hundert Gesichtern“ offenkundig überfordert. So landen die Patienten nach einer Praxis- und Klinik-Odyssee schließlich oft in der “Psycho-Ecke” – ohne dass ambulante Psychotherapien oder aufwendige psychosomatische und balneo-physikalische Rehamaßnahmen das Problem an der Wurzel packten und zu lösen vermöchten.

Dass ein anwesender Chefarzt trotz der bekanntermaßen häufigen und verhängnisvollen psychologisierenden Fehldiagnosen später den Kalauer von der “Borrelioseneurose statt Neuroborreliose” strapazierte, rief in diesem Kreis eher Befremden hervor.

In der Ärztesitzung am Samstagvormittag lieferte der stellvertretende Vorsitzende Dr. med. vet. Rolf Hänselmann (Droyßig) zunächst einen eindrucksvollen Fallbericht – seinen eigenen. Der Leidensweg eines über jeden Verdacht selbstbespiegelnder Wehleidigkeit erhabenen, bis dato kerngesunden “Pferdedoktors” sollte der anschließenden Diskussion wohl die nötige Erdung und Ausrichtung auf das Wesentliche geben: das Patientenschicksal. Gleichwohl hob die anschließende “allgemeine Diskussion” schon bald auf die konkurrierenden Theorien über die Ursachen der Therapieversager in den Stadien II und III ab, wobei jeder medizinische Experte eine Steckenpferde ritt.

Wie Borrelien pathogen wirken – widerstreitende Deutungen

Für den Pforzheimer Internisten Dr. Wolfgang Klemann ist “die fortgeschrittene Lyme-Borreliose mit Tabletten nicht zu beherrschen”; er empfiehlt, neben den gängigen Cephalosporinen auch eine intravenöse Gabe von Clarithromycin oder Doxycyclin – evt. kombiniert mit oralem Tetracyclin – in Erwägung zu ziehen. Dadurch würden übrigens auch die häufigen Koinfektionen mit Chlamydien besser bekämpft. Sein Ansbacher Fachkollege Professor Dr. Frank Hartmann beurteilt Ceftriaxon als unzureichend zellgängig und sieht hierfür Roxithromycin (in der Kombination mit TMP als “Gasser-Therapie”) sowie Metrodinazol als geeigneter an. Er bekräftigte seine bekannte Deutung der Borreliose als einer Neurotoxin-Erkrankung. Wenn der Erreger durch Gifte pathogen wirke, deren Aminosäurefrequenz übrigens längst bekannt sei, müsse der Schwerpunkt der Therapie neben der Antibiose auf der Ausleitung dieser Toxine liegen, welche die Informationsübermittlung zwischen den Nervenzellen störten. Entsprechende Studien mit Cholestyramin seien mit einer Besserung von rund 80 Prozent der behandelten Patienten ermutigend verlaufen.

Der Pathologe Professor Dr. Johannes Roßner (Nürnberg) nannte die hiermit bewirkte Bindung von Gallensäuren im Darm dagegen “möglicherweise fatal”. Er bestritt auch, dass Borrelien überhaupt – wie Chlamydien und Rickettsien – intrazellulär wirkten.

Eine Borrelie sei dreimal größer als Trepomena und könne durch eigene Muskeln überall in den Körper wandern; die Versuche der größten Abwehrzellen, der Makrophagen, diese Riesen-Spirochäten zu vertilgen, glichen dem Versuch, “eine Bratwurst in einem Brötchen verschwinden zu lassen”.

Das Beispiel der Syphilis lenkte die Diskussion auf die Schlüsselrolle des Immunsystems: Dass viele Borrelien-Infizierte nicht erkrankten, könne bedeuten, dass Borrelia Burgdorferi kein obligates Pathogen sei und erst in Verbindung mit einer bestimmten Immunkonstellation (Th1/Th2) eine systemische entzündliche Erkrankung hervorrufe. Auch die Lues wirke zerstörerisch durch die Immunantwort. Hinzu komme, dass Borreliosekranke weitere Infektionen (etwa EBV, CMV, HHV 6.) geradezu anzögen und dass das “Anschießen mit zu geringen Dosen” kontraproduktiv wirken könne “wie im Stierkampf: Nach dem Rückzug folgt eine wütende neue Attacke” (Roßner). Der Malaria-Experte Professor Dr. Dr. Ernst Fink, Beiratsmitglied und Moderator des Symposiums, brachte eine – bei der heutigen Kassenlage wohl zu kostenintensive – Gentypisierung bei Therapieversagern sowie Blutspiegelkontrollen bei Antibiosen ins Gespräch. Aufgrund der starken Eiweißbindung etwa von Doxycyclin, komme nur der kleinere Teil des verabreichten Wirkstoffs ans Ziel. Fink regte an, sich intensiver mit dem Stoffwechsel von Borrelien zu befassen und von den Erfahrungen mit Trypanosomen-Infektionen oder auch der Toxoplasmose zu lernen.

Ärzte-Arbeitsgruppen für Positionspapiere zu Diagnostik und Therapie

Am Ende des Vormittages konstituierten sich zwei Arbeitsgruppen der “Ärztesektion” zwecks Ausarbeitung medizinischer Positionspapiere: eines zur Diagnostik unter der Leitung des Berliner Laborarztes Professor Dr. Rüdiger von Baehr und eines zur Therapie, wofür sich der Neurochirurg und Chefarzt der Heinrich-Mann-Klinik (Bad Liebenstein), Dr. Harald Bennefeld zur Verfügung stellte. Seine Rehaklinik hatte sich in letzter Zeit bei Selbsthilfeinitiativen um das Image eines Therapiezentrums für Lyme-Borreliose “auf aktuellem wissenschaftlichem Stand” bemüht, sinnfällig durch einen auch in Jena verteilten Flyer. Darin lässt allerdings die Betonung dessen aufhorchen, “was sie bei uns nicht erhalten: unwissenschaftliche, in ihrer Wirkung nicht nachgewiesene Diagnose- und Therapieverfahren; (…) Unterstützung in Renten- und sonstigen sozialrechtlichen Angelegenheiten, wenn wir von deren Notwendigkeit und ihrem Sinn nicht absolut überzeugt sind, da wir das Ziel unserer Arbeit in der Hilfe für wirklich Betroffene und tatsächlich kranke Patienten sehen”. Als Verfahren bzw. Kriterien hierfür werden explizit die Lumbalpunktion und implizit die PCR (“aufwendigere und seltener angebotene labortechnische Untersuchungsmethoden”) genannt – obwohl über Liquorbefund und Direktnachweis des Erregers als Ausschlusskriterien nach dem wissenschaftlichen Diskussionsstand keineswegs Klarheit und Konsens besteht.

Werden hier also – zum Schaden eines erheblichen Teils der Patienten – falsche diagnostische Sicherheiten beansprucht und entsprechend falsche Schlüsse gezogen? Zu einer Debatte darüber kam es nicht, da Bennefeld sich inhaltlich im Plenum nicht mit einer eigenen Position vorwagte.

Diese hätte ihn wohl auch in Widerspruch zu jenen Experten gebracht, die im erweiterten Kreis des Symposiums am Nachmittag über die Labordiagnostik referierten. Der Diplom-Chemiker Dr.
Werner Gebhardt vom Karlsruher Labor Rurainski www.laborzentrum.org), der differenziert die Möglichkeiten und Grenzen aller einschlägigen Nachweismethoden darstellte, bezifferte den Erfolg der PCR aus Blut auf ein bis fünf Prozent, aus Nervenwasser bei bestehender Infektion auf “bestenfalls 50 Prozent”, so dass die hoch sensitive Methode zwar kaum falsch positive, jedoch häufig falsch negative Befunde hervorbringe. Wer als Arzt einem Patienten mit hoch positivem Elisa, breit gefächtertem, spezifischem Westernblot, LB-entsprechender Symptomatik und Besserung unter Antibiotikagabe mit dem Argument eines misslungenen Direktnachweises die Diagnose verweigere, bei dem solle man schleunigst “die Klinke in die Hand nehmen”. Ein verbreitetes Missverständnis sei außerdem, dass eine floride Borreliose immer einen IgM-Titer aufweisen müsse. Ganz abgesehen von der Spätphase mit typischerweise reiner IgG-Antwort verliefen manche Infektionen – noch häufiger als bei der Lues – von Anfang an ohne IgM-Antikörperbildung.

Und selbst ein gänzlich negativer Antikörperbefund beweise nicht, dass der Patient nicht mit Borrelien infiziert sei: Wahrscheinlich rund 5 Prozent aller Borreliosen verlaufen “seronegativ”, von der wesentlich höheren Fehlanzeige in der Frühphase mit Erythema migrans (in 70-90% aller symptomatischen Infektionen) ganz zu schweigen. Daher sei die gängige Kassenpraxis verfehlt, einen Westernblot nur bei positivem Elisa zu erstatten. Ein so in spätere Stadien geratener LB-Kranker kommt die Kassenhüter bekanntlich wesentlich teurer zu stehen, erst recht mit einer Krankenbiographie unter falscher Diagnose, denn eine Spontanheilung im Stadium III ist höchst unwahrscheinlich.

Umgekehrt könne man aus der bloßen Existenz von Antikörpern nicht schließen, das die Infektion noch bestehe, da stimulierte Plasmazyklone auch nach Ablauf der Infektion weiterhin Antikörper produzierten. Den Begriff des “Post-Lyme-Syndroms” für therapierte Borreliosen nannte Gebhardt eine “Verlegenheitsdiagnose”.

Indikator für eine aktive Borrelieninfektion: der Lymphozytentransformationstest (LTT)

Einen zusätzlichen Hinweis bei zweifelhafter negativer Serologie, aber auch bei vermeintlicher “Serumnarbe”, kann laut Gebhardt der von Stricker und Winger 2001 in den “Immunological Letters” vorgestellte CD 57-Test (Expression auf Natural-Killer-Zellen) geben, der allerdings auch bei den viralen (Ko-) Infektionen positiv anzeigen kann. Zunächst wird man daher dem Lymphozytentransformationstest (LTT) den Vorzug geben, bei dem Patientenzellen (Lymphozyten) mit gereinigten Borrelienantigenen stimuliert werden. Finden sich T-Zellen mit spezifischen Rezeptoren (“Memory-Zellen”), spricht dies für eine aktuelle Auseinandersetzung des Immunsystems mit Borrelien, also für eine aktive Infektion.

Professor Rüdiger von Baehr vom Berliner Institut für medizinische Diagnostik (www.IMD-Berlin.de) stellte seine Studie zum Vergleich von Serologie und LTT vor, die eine Übereinstimmung der Ergebnisse von 76 Prozent ergab. Fiel der LTT bei positiver Serologie negativ aus, handelte es sich in der Regel um nach Antibiose weitgehend beschwerdefreie Patienten (Serumnarbe). Insbesondere IgM-Antikörper sind
auch bei Autoimmunkrankheiten (z.B. rheumatoide Arthritis, Lupus erythematodes) oder nach einer kürzlich erfolgten EBV-Infektion möglich. Differenzialdiagnostisch, besonders bei Arthritis, ist immer eine reaktive Arthritis nach anderen Infektionen (Chlamydia trachomatis, Yersinien, Campylobacter, Salmonellen) in Erwägung zu ziehen. In diesen Fällen sind die Borrelienserologie und der LTT Borrelien unauffällig. Bei positivem LTT und negativer Serologie lag zumeist eine frische LB-Infektion mit Erythema migrans vor. Dass knapp ein Drittel aller LTT-Befunde bei Spätborreliosen nach adäquater Antibiose weiter positiv (> 3) anzeigten, könnte auf die auch symptomatisch naheliegende Existenz resistenter Stämme (etwa durch “L-Formen”) hinweisen.

Um die These einer Induktion von Autoimmunerkrankungen durch Borrelien ist es nach Professor von Baehrs Eindruck zuletzt “ruhiger geworden”. Auch im Plenum schien die Annahme einer Erregerpersistenz als wahrscheinlichste Ursache persistierender bzw. rezidivierender Krankheitssymptome zu dominieren, zumal auch nach Langzeitantibiosen immer wieder Direktnachweise gelingen. Die verbreitete Kritik am LTT beruht laut von Baehr meist auf dem Fehlen eigener Erfahrungen und überholten Argumenten. Das Verfahren sei inzwischen intensiv weiterentwickelt worden und zumindest nach den vorgetragenen Ergebnissen des Berliner Labors umfangreich validiert, mit den verschiedensten klinischen Bildern der Borreliose verglichen und somit als diagnostische Methode für eine aktive Borreliose, zur Erfolgsbeurteilung der antibiotischen Behandlung und zum Nachweis einer Reaktivierung als wertvoll erwiesen.

Auch die Professorin Dr. Bettina Wilske vom Nationalen Referenzzentrum Borrelien im Münchener Pettenkofer-Institut betrachte den LTT inzwischen als “leistungsfähige Methode”. Die Serologie habe sich dagegen für die kurzfristige Verlaufsbeurteilung einer Borreliose als nicht geeignet gezeigt. Allerdings ist es für den LTT neben der qualifizierten Durchführung wichtig, dass die Zellen nach möglichst kurzem Transport – am sichersten durch einen Abholservice – bei moderater Temperatur lebend im Labor ankommen. Direktnachweis PCR: unterschiedlich zuverlässig und meist teuer Die Konstanzer Chemikerin und Laborexpertin Dr. Sabine Lautenschläger (www.labor-brunner.de) betonte zunächst, dass neben Borrelien auch eine Reihe weiterer Zeckeninfektionen (Ehrlichien, Rickettsien, Coxiella burnetii u.a.) existieren. Auch hier sind die gängigen Antikörpertests nicht ganz zuverlässig.

Gebhardts und von Baehrs Aussagen zur PCR ergänzte sie durch die Erklärung, dass es beim Borreliennachweis aus Urin und Blut deshalb falsch negative Befunde gebe, weil die Spirochäten nicht gleichmäßig und in hoher Dichte verteilt seien, sondern sich zu “Haufen” zusammenlagerten.

Die PCR aus Haut sei nach der neueren Literatur zu 95 Prozent zuverlässig, die aus Gelenkpunktat (85%) oder Liquor (70%) aber schon weniger. (Nach den offiziellen Qualitätsrichtlinien MIQ 12/2000 beträgt die Sensitivität aus dem Liquor dagegen nur 10-30 Prozent!). Dem Argument der hohen Kosten des Direktnachweises begegnete Lautenschläger mit dem Angebot ihres Labors, die PCR für nur 42,50 Euro praktisch zum Selbstkostenpreis durchzuführen. Ein Nachweis in eingesandten Zecken kostet sogar nur 20 Euro.

Zum Abschluss des Symposiums rückten wieder Klinik und Therapie der Borreliose in den Mittelpunkt. Dr. Wolfgang Klemann (www.dr-w-klemann.de) stellte Patientenberichte zur fortgeschrittenen Lyme-Borreliose vor, die gewisse Erfolge antibiotischer Langzeittherapien zeigten. Spontanheilungen seien schon aufgrund des häufigen Immundefekts bei bzw. durch lange bestehende Infektionen unwahrscheinlich. Am schwersten erkrankten nach seiner Erfahrung Patienten mit einer Borrelien- plus Chlamydieninfektion. Hier seien schon wegen der intrazellulären Wirkung Doxycyclin und Klacid (intravenös und oral), aber auch Metrodinazol Mittel der Wahl. Bei unklarer laborchemischer Befundlage müsse die Symptomatik den Ausschlag geben. Beispielsweise spreche eine nächtliche Verstärkung der Beschwerden im Unterschied zur Arthrose für eine infektionsbedingte Entzündung. Diese gehe “fast immer” mit einer Vaskulitis einher, weil im kapillaren Strom die nachts ohnehin reduzierte Passage inflammatorisch weiter verengt werde.
Das könnte auch erklären, warum nach einer amerikanischen Studie (Fallon/Van Heertum/Plutchock 1997) etwa die Hälfte der Lyme-Patienten ein heterogenes Muster pathologisch verminderter Perfusion in der Hirn-SPECT aufwiesen. Bei etwa der Hälfte dieser Patienten verbesserte sich der Befund unter intravenöser Antibiose.

Rationalisierung statt Rationierung: “Das große volkswirtschaftliche Problem”

Als ein Kriterium für die Arbeitsfähigkeit therapierter LB-Kranker – in rein körperlicher Hinsicht – hat sich laut Klemann ein zweistündiger Spaziergang ohne Zeichen der Verausgabung bewährt. So viel Zeit haben sozialmedizinische Routinebegutachtungen freilich nicht: Ohne wesentliche motorische Einschränkungen, massiv gestörte Sinneswahrnehmung, drastische Blutbild- oder Organveränderungen, auffällige kognitive Ausfälle oder psychische Störungen gilt der Mensch hier allzu oft als gesund oder zumindest beruflich belastbar. Noch so schnelle und tiefe Erschöpfung, schweres Krankheitsgefühl, quälende Missempfindungen und Schmerzen, subakute Entzündungen und häufige Infekte, Endokrinopathien, Dysbiose, Schlafstörungen sowie depressive Episoden, die im Zusammenwirken zweifellos schwer behindern und dem Kranken “seinen eigenen Körper zum KZ werden lassen” (HP C. Kellersmann, Bonn), fallen üblicherweise durch das grobe Prüfungsraster von Amtsärzten und Auftragsgutachtern. Nicht selten ist ein Absturz in die Sozialhilfe die Folge. Und schon mancher Verzweifelte hat für teure “Alternativtherapien” seine letzten Ersparnisse verwendet. Dieses Dilemma vieler chronisch Borreliosekranker kam allerdings eher in Diskussionen außerhalb des Tagungsprogramms zur Sprache. Gleiches gilt übrigens für naturheilkundliche Komplementärtherapien, die sich zumindest zur Eindämmung des beträchtlichen Nebenwirkungspotentials ausgedehnter Antibiotikagaben eignen.

In der Mitgliederversammlung der Borreliose-Gesellschaft am Sonntag wurde das “große sozialmedizinische und volkswirtschaftliche Problem” (Prautzsch) ebenso angesprochen wie die schier unausrottbare journalistische Desinformation durch Aufforderungen, sich “gegen Zecken impfen” zu lassen und durch irreführende Kartendarstellungen von “Zecken-Risikogebieten”. In der Formel “Rationalisierung statt Rationierung” der finanziellen Ressourcen des Gesundheitssystems waren sich die Teilnehmer bei aller Differenz über geeignete Diagnoseverfahren oder Therapieschemata doch einig. Wo eine kausale Therapie infolge oberflächlicher, kostenfixierter Diagnostik versäumt oder trotz richtiger Diagnose verkürzt bzw. verweigert werde, führe die folgende jahrzehntelange Fehlbehandlung oder rein symptomatische Ersatztherapie meist zu noch höheren Kosten.

25 Jahre Reizblase und ein Ende

Ein vergleichsweise harmloses Beispiel zum Schmunzeln (für Nicht-Betroffene!) brachte Klemann mit dem Fall eines Patienten, der 25 Jahre lang an einer “Reizblase” litt und damit durch unser “hochmodernes” Gesundheitswesen geisterte. Nach einer Borreliose-adäquaten Antibiotikatherapie (Ceftriaxon) war der Spuk vorbei. Ein anderer Patient wanderte zehn Jahre lang mit Knieschmerzen (“Arthrose”) durch orthopädische Praxen und Rehakliniken – mit entsprechenden Kosten -, bevor eine dreiwöchige orale Antibiotikatherapie ihn von seinem Leiden erlöste – und das Gesundheitswesen von einem Fass ohne Boden.

Eine Fachärztin für Allgemeinmedizin aus Burgwedel (Dr. D. Putzer-Ahlborn) berichtete von einem verhaltensauffälligen Kind, das unter Antibiose “plötzlich normal” wurde und blieb, und ein Kollege aus Wolfenbüttel (Dr. H.-P. Gabel) entlarvte angebliche kindliche “Wachstumsschmerzen” als Spirochätenwerk.

Stimmt Klemanns Schätzung, dass etwa 5 Prozent der Bevölkerung irgendwann an Borreliose erkranken, aber wohl nur eine Minderheit davon die richtige Diagnose und Therapie erhält, dann bedeutet dies: Inmitten unserer “High-Tech-Medizin” rotiert eine rein Ignoranz-betriebene Geldvernichtungsmaschine. Ein Tagungsteilnehmer, der sich beklagte, erst nach einer Internisten-Odyssee von 7 Monaten die richtige Diagnose – leider zu spät – erhalten zu haben, erhielt vom letztlich treffsicheren Diagnostiker (der nämlich selbst eine Borreliose hatte) die frappierende Antwort: “Na da sind sie ja noch früh dran; im Durchschnitt wird die Diagnose, wenn überhaupt, erst nach 2 bis 3 Jahren gestellt”.

Spätestens hier wird deutlich, dass es sich bei der Borreliose nicht um eine “Modekrankheit” handelt, sondern um einen Medizin- und Sozialskandal mit erheblichen volkswirtschaftlichen Kosten – und insofern auch um ein Thema der Politik. Die ist allerdings derzeit mit anderen Themen voll beschäftigt, darunter paradoxerweise die Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Hier zusammen mit den Selbsthilfegruppen des “Borreliose Bundes Deutschland” (BBD) und den Borreliose behandelnden Ärzten vom BBÄ aufzurütteln, über die Massenmedien aufzuklären und politisch zu wirken, dürften die Hauptaufgaben der Borreliose-Gesellschaft (www.borreliose-gesellschaft.de) werden. Daher ist sie offenkundig an Mitgliedern mit gesellschaftlichem Einfluss auch außerhalb der medizinischen “Community” besonders interessiert. Direkt oder mittelbar Betroffene müsste es auch in den meinungsbildenden Eliten zunehmend geben. Vielleicht bedarf es angesichts “Promi”-fixierter Aufmerksamkeitsreflexe erst eines eindrücklichen Prominentenschicksals (Leistungssportler, Spitzenpolitiker, Filmstar) – wie bei Aids Rock Hudson – um kollektives Ausmaß und individuelle Dramatik dieser gefährlichen und “widerwärtigen Krankheit” (Dipl.-Ing. Günther Schust, BG-Vizevorsitzender) allgemein bewusst zu machen.

Neuere, alarmierende Fernsehbeiträge des letzten Jahres, etwa von “Frontal” (ZDF), “Report” (ARD), “Extra” (RTL) und verschiedenen regionalen Sendern scheinen die Einschätzung der Sprecherin des Borreliose Bundes, Ute Fischer, zu bestätigen: “Die Zeit arbeitet ja für uns”.

Das war jedoch kein Trost für jene verzweifelte und couragierte Mutter, die sich erst kurz vor der Tagung spontan angemeldet hatte, um vielleicht einen hilfreichen Hinweis für ihre neunjährige, schwer kranke Tochter zu ergattern, die trotz Antibiosen “immer schwächer” werde. Von vier Ärzten aus dem Teilnehmerkreis erhielt sie vier verschiedene Ratschläge, stellte sie später resignativ fest. Ein Fanal für die Rat- und Hilflosigkeit, mit der unsere jahrzehntelang Infektions-vergessene, impf- und Antibiotika-optimistische Medizin dem Problem der Borreliose noch immer gegenübersteht – ein Vierteljahrhundert nach ihrer Entdeckung.

Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andreas Püttmann
März 2005

“PSYCHOLOGIE HEUTE” Heft 10/2005

Dr. Andreas Püttmann

“Das ist wohl psychosomatisch!”

Über eine modische Verlegenheitsdiagnose und ihre menschlichen Opfer: eine Streitschrift

Ist es nicht deprimierend? Wirtschaftswachstum, Stabilitätskriterien, Sozialsysteme, Bildung: Nirgendwo mehr scheint es uns Deutschen zu gelingen, ganz vorn zu sein. In einer Disziplin allerdings bleiben wir Weltmeister. Wussten Sie, dass es in Deutschland mehr psychosomatische Klinikbetten gibt als auf dem ganzen übrigen Erdkreis?

Die hierzulande ungebrochene Beliebtheit psychosomatischer Diagnosen und Deutungen hat wohl mit spezifisch deutschen Wertigkeiten zu tun, mit Denkmustern und geistigen Reflexen. Die sprichwörtliche “deutsche Seele” hat sicherlich nicht zufällig aus diesem zentraleuropäischen Land einen Schauplatz inbrünstiger Glaubenskämpfe, romantischer Innerlichkeit, des Triumphes der Gesinnung über die Urteilskraft und der subjektiven Selbstgewissheit lieber die empirische Vernunfteinsicht gemacht. „Im Innersten und im Höchsten der Seele erschafft Gott die ganze Welt“, predigte im Mittelalter der Mystiker Meister Eckehart. Er war ein Deutscher.

Wer wäre da berufener als seine Nachfahren der Medizin, die Geburt der Krankheit in der Seele zu verkünden? Und wundert es, dass Europas eifrigste Ideologieproduzenten auch hierbei wieder der Versuchung zum Exzessiven erliegen, indem sie der Entdeckung der Psychosomatik alsbald einen zum Dogma erstarrenden Psychosomatismus folgen lassen?

Zumal der Psychosomatikboom für die Kaste der Mediziner von mancherlei Vorteil ist – zunächst als Arbeitsbeschaffungsprogramm, hauptsächlich aber im Praxisalltag. Alles, worauf sich unsere Fünf-Minuten-Fließband-Medizin samt ihrem (übrigens ebenfalls weltmeisterlichen) röntgenwütigen Darstellungszwang und Messbarkeitswahn keinen Reim machen kann, lässt sich in dieser Rubrik prima abladen. Wer bei einem chronisch Schmerzkranken, Verdauungsgestörten, Herzkaspernden, Tinnitusterrorisierten, Dauererschöpften oder Schlaflosen keine krassen morphologisch oder labormedizinisch sichtbaren Normabweichungen feststellen kann und die symptomunterdrückenden Standardpräparate durchprobiert hat, dem kommt eine auch für das breitere Publikum überaus subtil klingende Erklärung des Unerklärlichen als diagnostische Allzweckwaffe sehr gelegen: „psychosomatisch“.

Mit der Diagnose “psychosomatisch” wird der Spieß der Bringschuld behände umgedreht: Nun muss nicht mehr der Arzt kurieren, sondern der Patient hat seine Lebensumstande in Ordnung zu bringen, notfalls mithilfe eines Psychiaters oder Psychologen. Und diese machen dem Bonmot „Wer einen Hammer besitzt, der betrachtet bald jedes Problem als Nagel“ alle Ehre. In gewissem Sinne sogar zu Recht: Wer von uns ohne psychischen Ballast ist, der werfe den ersten Stein auf die Autorität der Psychologie! Ist nicht bei jedem zumindest eine kleine Neurose zu finden? Bei den unerklärlich körperlich Leidenden bevorzugt die anankastische: „Sie neigen aber auch zur Selbstbeobachtung!“ Was soll ein Schmerzpatient darauf noch sagen? Er kann froh sein, wenn er ohne die schon mitschwingende Diagnose Hypochondrie davonkommt. Ein Patient, der es wagt, der psychischen Deutung zu widersprechen, bestätigt damit nur ihre Richtigkeit. Die Unentrinnbarkeit liegt quasi in der Natur der Sache. Falsifizierbar ist die Psychodiagnose fast nie. Und die somatisch zuständigen Heilerkollegen sind mit der Überweisung an den Seelenfachmann aus dem Schneider: Der Nächste bitte!

Leidtragende dieser deutschen Gesundheits- und Psychoreligion („Das Wichtigste ist doch die Gesundheit“, „Was macht das mit dir?“) sind die dergestalt etikettierten kranken Menschen. Da sehen sich krebskranke Frauen mit dem Rat konfrontiert, den „Knoten“ ihrer vermeintlichen oder realen Lebensprobleme psychotherapeutisch zu durchschlagen, dann wurden sich auch keine weiteren Knoten in der Brust entwickeln und noch vorhandene losen lassen. Ein Tumor als logische Konsequenz, als „Quittung“ für versäumte private oder berufliche Grundentscheidungen, als Rebellion der Seele mit körperlichen Mitten – solche Spekulation ist nicht nur unter Esoterikern ungeheuer populär.

Insbesondere bei schweren Infektionskrankheiten – einer lange verharmlosten wachsenden Gefahr – kann sich diese Art von Seelendiagnostik für die Betroffenen fatal auswirken. Allein drei Beispiele krasser Fehlbehandlung erlebte Familie S.

Verdrehte Bringschuld:

Nicht der Arzt muss kurieren, sondern der Patient sein Leben richten

Zuerst und am glimpflichsten traf es Susanne S.: Sie hatte plötzlich mithartnackigen Magenschmerzen und Verdauungsstörungen zu kämpfen. Chronische Magenschleimhautentzündungen galten damals, in den 1980er Jahren, meist als „stressbedingt“. Da die fast Fünfzigjährige zuvor nach jahrzehntelanger Pause einen beruflichen Wiedereinstieg als Dozentin in der Berufsschule gewagt hatte, lag die psychosomatische Erklärung für den „nervösen Magen“ auf der Hand. Vielleicht wäre aus der Dauergastritis wie bei manch anderem schicksalhaftem Verlauf auch noch ein Magengeschwür oder gar Karzinom geworden, wenn nicht der Zufall in Gestalt einer medizinwissenschaftlichen Entdeckung zu Hilfe gekommen wäre:

Zwei australischen Forschern, dem Pathologen Robin Warren und dem Mikrobiologen Barry Marshall, war es 1983 gelungen, aus Biopsiematerial der Magenschleimhaut ein spiralförmiges Bakterium zu kultivieren: Helicobacter pylori. Die orthodoxe Schulmedizin weigerte sich zunächst, davon Kenntnis zu nehmen, und akzeptierte die – übrigens nicht nur für den Magen – krankmachende Wirkung der tausendstel Millimeter kleinen Mikrobe erst nach einem aufsehenerregenden Selbstversuch Warrens. Fortan rückte man dem Magenbakterium mit einer antibiotischen Kombinationstherapie zu Leibe. Schlagartig war es auch mit den vermeintlich stressbedingten Magenproblemen der Susanne S. vorbei. Glück gehabt.

Schlimmer erging es ihrer jüngeren Schwester Hilde S.: Als die lebensfrohe, sozial engagierte, gesundheitlich bis dahin robuste Familienmutter lange nach ihren Wechseljahren über zunehmende Abgeschlagenheit, Missempfindungen, Brummen im Kopf, Schlafstörungen, Harndrangattacken und Durchfälle klagte und auch Stimmungsschwankungen stärker als früher spürbar wurden, waren Familienmitglieder und Ärzte mit der Erklärung schnell bei der Hand: „Psychosomatisch!“ „Das sind die Nerven!“ Seelische Ursachen konnte man sich – wie aus nahezu jedermanns Biografie leicht zusammenreimen. Die budgetfixierte Routinediagnostik schaffte es gerade noch, eine leichte Diabetes festzustellen und mit dieser wiederum die „Polyneuropathie“ zu erklären (welche eigentlich weniger Diagnose als Begriffsplakette für ein Beschwerdespektrum ist). Damit erschien der Fall plausibel subsumiert: Psychosomatikerin mit diabetesbedingter Polyneuropathie. „Nur diskret“ erhöhte Leberwerte wurden von der Hausärztin – einer Internistin! – konsequenzlos registriert. Erst nach etlichen Jahren zunehmender Beschwerden der gar nicht wehleidigen, inzwischen 69-jährigen Patientin hatte ein Klinikneurologe die längst überfällige Idee: Er testete das Blut auf Hepatitis und fand Antikörper gegen einen Virustyp C. Der Zeitpunkt für eine aussichtsreiche Interferontherapie schien in diesem Krankheitsstadium und Lebensalter angesichts des Nebenwirkungspotenzials verpasst.

Infektionsmedizinische Ignoranz und modischer Psychologismus waren für Hilde S. ein Problem bis zur richtigen Diagnose; seitdem bleibt sie davon verschont. Es gibt aber mindestens eine – gar nicht so seltene -Infektionskrankheit, bei der die Betroffenen nicht nur vor, sondern selbst nach der Diagnose noch mit der Psychohypothese traktiert werden: Lyme-Borreliose. Die der Syphilis ähnelnde Spirochäteninfektion durch (häufig unbemerkte) Zeckenbisse kann das zentrale Nervensystem befallen und „messmedizinisch“ schwer objektivierbare neurologische Störungen sowie psychische Wesensveränderungen verursachen. Ist das Routineblutbild bei schleichend-chronischem Verlauf unauffällig und die Symptomatik wechselhaft und im Einzelnen unspezifisch, dann wird die richtige Diagnose fast regelmäßig erst nach einer Ärzteodyssee gestellt. Dann ist es für eine kurzfristige Heilung durch mehrwöchige Antibiotikatherapien manchmal zu spät, zumal wenn die Erreger durch die Therapie nicht vollständig beseitigt und damit immer widerstandsfähiger geworden sind.

Fünf Internisten übersehen die Borreliose: “Treiben Sie Sport und trinken Sie ein gutes Bier”

So auch im Fall – ausgerechnet – des Sohnes von Hilde S.: Im Frühjahr 2001 traten bei ihm Schwächeattacken, Schweißausbrüche, Missempfindungen, Kopf- und Muskelschmerzen, Verdauungs- und Schlafstörungen auf, die er nicht mit einem vorausgegangenen Zeckenbiss in Verbindung brachte, da er von Borreliose nur im Zusammenhang mit Gelenkschmerzen gehört hatte. So ging es offenbar auch den Medizinern: Fünf hintereinander aufgesuchte Internisten gaben die Fehl- oder Nebendiagnosen „grippaler Infekt“, „schwergradige Bronchitis“, „chronisches Erschöpfungssyndrom“, „vegetative Dystonie“ und unvermeidlich „psychosomatisches Krankheitsbild“. Der Hausarzt schickte ihn mit der Bemerkung „Treiben Sie mehr Sport und trinken Sie ein gutes Weizenbier“ nach Hause. Als der sechste Internist die Borreliose im siebten Monat nach der Infektion endlich diagnostiziert hatte, versagte – entgegen vollmundiger Arztprognosen – die antibiotische Standardtherapie; die Beschwerden kehrten schon nach wenigen Tagen zurück.

Die behandelnden Neurologen erklärten die Krankheit trotzdem für beendet und verordneten Antidepressiva. Der sich nach wie vor malade fühlende Mann wurde nunmehr als „Hypochonder“ und „psychischer Fall“, günstigstenfalls als „Burn-out-Opfer“ eingestuft. Ein Internist der Universitätsklinik verwies den Patienten an die psychiatrische Ambulanz. Der stationären Aufnahme in die „Klapse“ (wo es bezeichnenderweise doppelt so viele Borrelieninfizierte gibt wie im Bevölkerungsdurchschnitt) entging der umworbene Privatversicherte dank seiner natürlichen Skepsis knapp. Erst durch Internetrecherchen erfuhr er von der Möglichkeit chronischer Verläufe im Spätstadium, von Dutzenden Selbsthilfeinitiativen und von Ärzten, welche die angeblich antibiotisch auskurierte Krankheit intensiv weiterbehandeln.

Bezeichnenderweise klangen dann auch bei einer zweiten, längeren Antibiotikatherapie fast alle Symptome – einschließlich der psychischen – schlagartig ab. Nach einem erneuten Rückfall nach Ende der Antibiose sah sich der Patient in einer Rehaklinik erneut mit der psychogenen Fehldeutung seiner Krankheit konfrontiert, da sich die Ärzte diagnostisch auf einen „Zustand nach Borreliose mit persistierender Immunantwort“ versteift hatten, ohne dies belegen zu können. Der Optimismus antibiotikagläubiger Schulmediziner ohne Fachwissen über zunehmende Resistenzbildungen ließ es nicht zu, die „persistierende Immunantwort“ als das eigentlich Naheliegendste zu deuten, nämlich als natürliche Reaktion des Organismus auf eine anhaltende Aktivität des keineswegs abgetöteten Erregers.

Viel wäre gewonnen, wenn Ärzte die Klagen ihrer Patienten grundsätzlich ernst nähmen

Ein neurologischer Vertreter dieser ärztlichen Gattung begutachtete den nach Ablauf einer einjährigen Zeitrente immer noch und genauso Kranken als „voll arbeitsfähig“ mit der Bemerkung: „Sie haben eine anankastische Neurose. Sie beobachten sich ständig selbst und rennen von Arzt zu Arzt.“ Der Patient widersprach dem Gutachten, worauf die zuständige Rentenversicherungsanstalt ihn in eine – wir ahnen es schon –„psychosomatische Reha“ schicken wollte. Nur durch beherzte Interventionen des inzwischen behandelnden Infektionsmediziners, eines Abgeordneten sowie durch einen Alternativvorschlag des gut informierten Patienten selbst konnte der Bescheid noch in eine neurologische Reha umgeändert werden. Dortiger Befund: auffällige Immunparameter und Hormonwerte, einseitige Sehfeldeinschränkung und andere neurologische Störungen, objektivierbare Hirnleistungsdefizite; der psychologische Hypochondrietest fiel dagegen negativ aus. Arbeitsunfähig für 9 bis 18 weitere Monate.

Ein mühsam errungener Teil-„Erfolg“. Doch wie viele Wehrlosere bleiben auf der Strecke, segeln unter diagnostisch falscher Flagge trostlos in die Fehlbehandlung?

Lautet also die Moral von der Geschicht´: Traue der Psychosomatik nicht? Hier soll nicht die alte christlich-anthropologische Kulturweisheit bestritten werden, dass Körper, Seele und Geist in einer engen Wechselbeziehung stehen. Vielen körperlichen Krankheiten scheint durchaus ein langanhaltender emotionaler Stress voranzugehen. Auch bei Dauer und Erfolg von Heilungsprozessen sind seelisch-geistige Ressourcen von wesentlichem Einfluss. Nicht von ungefähr leben Verheiratete länger als Singles und Geschiedene im Durchschnitt am kürzesten. Neuere Forschungen der Psychoneuroimmunologie bestätigen die alte Beobachtung, dass seelische Belastungen die Abwehrkräfte schwächen und eine erhöhte Infektanfälligkeit mit sich bringen können. All diesen Zusammenhängen wird die medizinische Forschung weiter zu Recht auf den Grund gehen.

Doch in jedem Fall bleibt eine Infektion eine Infektion. Sie will entdeckt und behandelt werden. In der Praxis wäre schon viel gewonnen, wenn Ärzte die Klagen ihrer Patienten grundsätzlich ernst nähmen und wenn sie anerkennen würden, dass sich im diagnostischen Gespräch zwei Experten gegenübersitzen: der Arzt mit seiner hoffentlich breiten, tiefen und aktualisierten Fachkenntnis und der Patient mit seiner Körperwahrnehmung und seiner umfassenden Kenntnis der eigenen Krankheitsgeschichte. Solches Ernstnehmen hat freilich auch mit geistig-seelischen Ressourcen zu tun: mit Einfühlungsvermögen, Mitleidsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Gewissenhaftigkeit, Geduld, Fleiß, Respekt und nicht zuletzt Demut. Einer Demut, die erstens auch einmal eingestehen kann, dass das eigene Behandlungskonzept gescheitert ist und der Fachmann nicht mehr weiter weiß, ohne den Ball gleich ins Feld des Patienten, seiner „Psyche“, Einbildungskraft oder Wehleidigkeit zurückzuspielen.

Einer Demut, die sich zweitens immer bewusst bleibt, dass die derzeitige Medizin lieber die Geheimnisse des menschlichen Organismus und seines biochemischen und mikrobiologischen Innenlebens zwar viel mehr wissen mag als noch vor hundert, fünfzig und selbst vor zehn Jahren, aber doch viel weniger, als sie in zehn, fünfzig und hundert Jahren erkannt haben wird.

Dr. phil. Andreas Püttmann, Jg. 1964, ist Politikwissenschaftler, Journalist, Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung – und nach einer erst im Spatstadium diagnostizierten Borreliose seit März 2002 schwerbehindert.

Der Artikel ist in “PSYCHOLOGIE HEUTE” Heft 10/2005 erschienen.

Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andreas Püttmann

Die seit 1998 bestehende Web-Site wird umgestellt von einzelnen, mit sehr großem Aufwand von Hand gemachten Web-Seiten auf eine größere Redaktion mit mehreren parallel arbeitenden autonomen Admins und Autoren und automatischer Seitengenerierung.

Die ersten Artikel sind uns freundlicherweise von Herr. Dr. Püttmann zur Verfügung gestellt worden.