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Skeptic's Dictionary
 

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Mozart-Effekt

"Wir haben eine gemeinsame innere Sprache der Neuronen, die uns angeboren ist, und wenn man letztere mit den richtigen Reizen stimuliert, kann man dem Gehirn helfen, vernünftig zu denken." -Gordon Shaw

"Wir haben diese Tiere [Ratten] in utero und sechzig Tage nach ihrer Geburt verschiedenen Hörreizen ausgesetzt und sie dann ein räumliches Labyrinth durchlaufen lassen. Und in der Tat bewältigten jene Tiere, die Mozart gehört hatten, das Labyrinth schneller und mit nur wenigen Fehlern. Wir entfernen nun ihre Gehirne und schneiden sie in Scheiben, um genau erkennen zu können, was sich - neuroanatomisch gesehen - in Folge dieser Behandlung verändert hat. Es kann durchaus sein, dass die intensive Musikbehandlung eine Art Bereicherung darstellt, die Auswirkungen auf die räumlichen Regionen des Hippocampus hat."
Frances Rauscher

"Geschichten die aussagen, dass frühe Kindheitserfahrungen letztendlich schulisches Können, zukünftige Karrieren, und die Fähigkeit, liebevolle Beziehungen einzugehen, bestimmen, haben keine soliden Fundamente in der Neurowissenschaft."
John Bruer

Der Mozart-Effekt ist ein von Alfred A. Tomatis geprägter Begriff für die vermeintliche Steigerung der Gehirnentwicklung bei Kindern unter drei Jahren, wenn diese Kinder Musik von Wolfgang Amadeus Mozart hören.

Die Idee, dass ein solches Phänomen existieren könnte, tauchte erstmals im Jahre 1993 auf - an der University of California in Irvine. Dort untersuchten der Physiker Gordon Shaw und Frances Rauscher, ein Spezialist auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklung, bei ein paar Dutzend College-Studenten die Auswirkungen einer Hörprobe: der ersten 10 Minuten von Mozarts Klaviersonate für Vier Hände in D-dur (KV 448). Sie stellten eine vorübergehende Steigerung des räumlichen und zeitlichen Denkens fest - ein Ergebnis, das per Messung mit dem "Stanford-Binet IQ-Test" ermittelt wurde. Niemand sonst hat diese Resultate jemals wiederholen können. Ein Forscher mindestens (Steven Halpern) hat sogar ermittelt, dass es Leute dümmer machen kann, Mozart zu hören. Ein weiterer Wissenschaftler meinte: "Das allerbeste, was man aus ihrem Experiment schließen kann - wenn es denn völlig unbestritten wäre - besteht darin, dass das Anhören von schlechter Musik Mozarts kurzfristig den IQ anhebt" (Michael Linton). Inzwischen untersucht Rauscher die Auswirkungen der Musik Mozarts auf Ratten. Und sowohl Shaw, als auch Rauscher ergingen sich in spekulativen Vermutungen darüber, dass die Musik Mozarts das räumliche Denken und das Gedächtnis beim Menschen anrege.

Im Jahre 1997 gaben Rauscher und Shaw bekannt, sie hätten wissenschaftlich nachgewiesen, dass Klavier- und Gesangsunterricht das abstrakt-logische Denken bei Kindern besser fördere, als dies der Computer-Unterricht bewirke. "Das Experiment erfasste drei Kindergartengruppen: die erste Gruppe erhielt privaten Klavier- oder Keyboard-Unterricht, sowie Gesangs-Unterricht; eine zweite Gruppe bekam privaten Computer-Unterricht; und eine dritte Gruppe erhielt gar kein Training. Anschließende Tests über die Fähigkeit zu räumlich-zeitlichem Denken zeigten: Die Kinder im Klavier/Keyboard-Programm erbrachten eine 34% höhere Leistung als die anderen. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Musik eindeutig jene höheren Gehirnfunktionen steigert, die für Mathematik, Schach, Wissenschaft und Technik erforderlich sind."

Shaw und Rauscher haben einen ganzen Industriezweig ins Leben gerufen. Sie haben auch ein eigenes Institut gegründet: Das "Music Intelligence Neural Development"-Institut (M.I.N.D.). Derzeit wird soviel über die wundersamen Auswirkungen der Musik geforscht, dass eigens eine Website erschaffen wurde, damit sich die neuen Entwicklungen im Auge behalten lassen: "MüSICA", mit einer gänzlich dem Mozart-Effekt gewidmeten Abteilung.

Shaw und Rauscher behaupten, ihre Arbeit sei falsch dargestellt worden. Was sie gezeigt hätten sei, dass "es Muster gibt von Nervenzellen, die nacheinander zünden, und dass es im Gehirn anscheinend Stellen gibt, die auf bestimmte Frequenzen reagieren." Das sei eben nicht dasselbe, wie ein Beweis, dass das Anhören von Mozarts Musik zu höherer Intelligenz bei Kindern führt. Harte Fakten jedoch, wartet Shaw erst gar nicht ab. Vorläufig profitiert er selbst von den Wünschen der Eltern, die ihre Kinder intelligenter machen wollen. Kürzlich kam sein Buch/CD-Set "Keeping Mozart in Mind" auf den Markt. Es ist seit September 1999 über sein Institut zu beziehen. Shaw und seine Kollegen sind überzeugt davon, dass - weil räumlich-zeitliches Denken der Schlüssel zu vielen höheren kognitiven Aufgaben ist - eine Stimulierung des Hirnteils, der mit räumlich-zeitlichem Denken und räumlich-zeitlichen Aufgabenlösungen zu tun hat, die Begabung einer Person für Mathematik, Technik, Schach, und Wissenschaft verbessert. Sie bieten sogar ein Software-Paket an, das ohne Sprache auskommt und das räumlich-zeitliche Denkvermögen mit Hilfe eines animierten Pinguins anzukurbeln verspricht.

Shaw und Rauscher haben mit ihren Ideen zwar einen neuen Industriezweig ins Leben gerufen - aufrechterhalten wird diese Branche jedoch von den Massenmedien und all den anderen, die daraus eine Art Alternativ-Wissenschaft gemacht haben. Übertriebene und irreführende Behauptungen über die Musik sind inzwischen so alltäglich, dass der Versuch, sie richtig zu stellen, an Zeitverschwendung grenzt. Jamal Munshi, ein Professor an der Sonoma State University, sammelt falsche Berichte und, wie er sie nennt, "Einfaltshäppchen". Er stellt sie im Internet unter der Rubrik "Weird but True" (verrückt aber wahr) zur Verfügung, und behauptet noch obendrein, dass Shaw und Rauscher bewiesen hätten, eine Klangprobe aus der Mozart-Sonate in D-Dur für zwei Klaviere habe "die SAT-Resultate der Studierenden um 51 Punkte erhöht." Tatsächlich führten Shaw und Rauscher an 36 Studenten einen Test im Papierfalten und -schneiden durch, und stellten bei der "Mozartgruppe" eine vorübergehende Steigerung um acht bis neun Punkte immer dann fest, wenn der Test entweder nach einer Schweigeperiode, oder nach dem Anhören einer Entspannungskassette absolviert wurde. Munshi behauptet auch, dass die Wissenschaft nicht erklären kann, warum eine Fliege fliegt. Die Wissenschaftler arbeiten seit längerem an diesem wesentlichen Problem, also sollten wir ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Don Campbell ist zugleich der Carlos Castaneda und der Roncalli des Mozart-Effekts: er bauscht die Arbeit von Shaw, Rauscher und anderen für seine eigenen Zwecke maßlos auf. Er hat sogar den Ausdruck "The Mozart Effect" patentieren lassen und geht mit seiner Person und seinen Produkten auf einer eigenen Website hausieren. Campbell behauptet, er habe durch Summen, Beten und die Selbst-Suggestion von einer vibrierenden Hand an der rechten Seite seines Schädels ein Blutgerinnsel in seinem Gehirn verschwinden lassen. Unkritische Anhänger der alternativen Medizin hinterfragen seine Behauptung nicht einmal, zumal es sowieso eine dieser wohlfeilen Behauptungen ist, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Er könnte genausogut behaupten, die Engel hätten sein Blutgerinnsel entfernt. Man fragt sich allerdings: wenn Musik so gesundheitsfördernd ist - warum hat er dann überhaupt erst ein Blutgerinnsel entwickelt? - Hat er vielleicht versehentlich Rap gehört?

"Die Behauptungen, die Campbell im Hinblick auf die Musik aufstellt, sind von einer Extravaganz, die dem Rokoko-Stil angemessen wäre. Und sie sind auch etwa so realitätsbezogen, wie es der Rokoko einst war. [Campbell behauptet, dass Musik so ziemlich alles heilen kann.] Seine Beweisführung hat in der Regel nur anekdotischen Charakter. Und sogar hierbei interpretiert er einiges gründlich falsch. Die gesamte Struktur seiner Argumentation kann dem gesunden Menschenverstand nicht standhalten. Wenn die Musik Mozarts wirklich so gesundheitsfördernd wäre - warum war Mozart selbst so oft krank? Wenn Intelligenz und Geist durch Mozarts Musik so sehr gefördert würden - warum sind dann die klügsten und inspiriertesten Menschen auf der Welt nicht die Mozart-Spezialisten?"
Michael Linton

Doch der Mangel an Beweisen in Bezug auf den "Mozart-Effekt" verhinderte nicht, dass Campbell zum Liebling jener Vortrags-und Gastredner-Maschinerie wurde, deren Funktionieren von naiven und unkritischen Zuhörern garantiert wird.

"Wenn [die amerikanische Frauenzeitschrift] McCall's Ratschläge will, wie man ein Stimmungstief mit Musik behebt; wenn [der öffentlich Sender] PBS einen Experten dazu befragen möchte, auf welche Weise die Stimme Energie verleiht; wenn IBM einen Berater anzuheuern beabsichtigt, damit dieser mit Musik die Effizienz und Harmonie am Arbeitsplatz steigere; wenn der Landesverband der Krebs-Überlebenden einen Redner zum Thema "Heilkräfte der Musik" sucht - stets wenden sie alle sich an Campbell."
(zitiert nach Campbell's Website

Die Gouverneure der US-Staaten Tennessee und Georgia haben Programme gestartet, mit deren Hilfe jedes Neugeborene eine Mozart-CD erhält. Hunderte von Krankenhäusern wurden im Mai 1999 von der National Academy of Recording Arts and Sciences Foundation mit kostenlosen Klassik-Musik-CDs beschenkt. Das sind gut gemeinte Gesten - aber basieren sie tatsächlich auf stichhaltigen Forschungsbeweisen, die dafür sprechen, dass klassische Musik die Intelligenz eines Kindes oder den Heilungsprozess eines Erwachsenen ankurbelt?

Die Frage muss verneint werden, wenn man Kenneth Steele, einen Psychologie-Professor der Appalachian State University, und John Bruer, Leiter der James S. McDonnell Foundation in St. Louis (Missouri) dazu hört. Dem ganzen Werberummel widersprechend, behaupten sie, dass das Mozart-Hörerlebnis nicht wirklich intelligenzsteigernd oder gesundheitsfördernd sei. Steele und seine Kollegen Karen Bass und Melissa Crook sagen, dass sie trotz genauer Befolgung der von Shaw und Rauscher aufgestellten Protokolle "absolut keinen Effekt" feststellten konnten, obwohl sie in ihrer Studie 125 Studenten untersuchten. Sie folgerten daraus, dass "es nur wenig Grund zur Unterstützung von Interventionsprogrammen gibt, die sich auf die Existenz des Mozart-Effekts berufen." Ihre Ergebnisse erschienen in der Fachzeitschrift "Psychological Science" vom Juli 1999. In seinem Buch "The Myth of the First Three Years" ("Der Mythos von den ersten drei Jahren") kritisiert Bruer nicht nur den "Mozart-Effekt", sondern auch einige ähnlich gelagerte Mythen, die sich auf Fehlinterpretationen der jüngsten Gehirnforschung stützen.

Der "Mozart-Effekt" bietet ein Beispiel dafür, wie sich in unserer Welt die Bereiche Wissenschaft und Medien miteinander mischen. Eine Andeutung, hingeworfen in einigen Absätzen eines wissenschaftlichen Journals, mutiert binnen weniger Monate zur allgemein anerkannten Gewissheit: letzten Endes glauben daran sogar noch jene Wissenschaftler, die ursprünglich einmal erkannten, wie sehr ihre Arbeit durch die Medien verzerrt und aufgebauscht wurde. Andere, Profit witternd, schließen sich der erfolgversprechenden Sache an, fügen dem Ganzen ihre eigenen Mythen, fragwürdigen Behauptungen und Verzerrungen noch hinzu. Im Falle des "Mozart-Effekts" schließen sich viele unkritische Befürworter dem Glauben allein schon deshalb an, weil es sich schließlich um die Zukunft unserer Kinder handelt. Schon haben wir dazu Bücher, Kassetten, CDs, Institute, staatliche Programme. Bald schon wird der Mythos von Millionen Menschen als feste wissenschaftliche Tatsache akzeptiert. Es gibt nur wenig kritischen Widerstand - weil wir ja bereits wissen, dass die Musik unsere Gefühle und Stimmungen beeinflusst. Warum also sollte sie nicht auch unsere Intelligenz und Gesundheit beeinflussen? Das entspricht doch nur dem gesunden Menschenverstand, nicht wahr? So ist es - und das ist ein Grund mehr, skeptisch zu sein.

 

übersetzt von Larissa Wagner © 2000, MorgenWelt, Hamburg

 

 

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