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Skeptic's Dictionary
 

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Psychohistorie

Psychohistorie funktioniert nicht und kann nicht funktionieren. Die Zeit ist gekommen, um der Tatsache ins Auge zu sehen, dass hinter all dem rhetorischen Gehabe der psychoanalytische Zugang zur Geschichte - unheilbar - ein logisch verzerrter, wissenschaftlich unzureichender und kulturell naiver Ansatz ist.
David E. Stannard, Shrinking History

Weder Psychoanalytiker noch Historiker nehmen die Psychohistorie ernst.
Aurel Ende – Herausgeber von Lloyd deMause in Deutschland und kein Gegner der Psychohistorie

Psychohistorie ist eine Pseudowissenschaft, die auf der Anwendung der Psychoanalyse auf die Lebensbeschreibungen bereits verstorbener Menschen beruht. Sigmund Freud bezeichnete diese Methodologie als "Biographik". Einer der Kernpunkte der Psychohistorie ist die Theorie von frühkindlichen (meist sexuellen) Traumen als unbewusst wirkende Auslöser seelischer und körperlicher Probleme im Erwachsenenleben.

Die Psychohistorie zeichnet sich durch eine Großzügigkeit der Spekulation aus, gegen die sich selbst die gewagteren Vermutungen mancher Psychoanalytiker wie skeptische Erörterungen ausnehmen. Während man eigentlich davon ausgehen sollte, dass zu einer Psychoanalyse, so kritisch man sie sehen mag, doch zumindest enger Kontakt zwischen Therapeut und Patient erforderlich sind (wobei schon Freud auch ferntherapierte), so beruft sich die Psychohistorie auf meist nur spärlich vorhandene historische Unterlagen über berühmte Persönlichkeiten und behandelt dieses Material unbelastet von jeder geschichtswissenschaftlichen Sachkenntnis. Exakt dieses Fehlen eines Rapports zwischen Therapeut und Analysand (der ja nun mal tot ist) ist die Hauptkritik, die aus den Reihen der Psychoanalyse selber erhoben wird.

Freud selber verstieg sich dazu, den Charakter Leonardo da Vincis zu analysieren, während sein Schüler Erik Erikson es mehr mit Martin Luther hatte. Selbstverständlich fügten sich beide wunderbar in das Gedankengebäude der Psychoanalyse ein. So hatte da Vinci unerfüllte homosexuelle Neigungen, während Luther Gott als Projektion des irdischen Vaters betrachtete. Berüchtigt wurde auch die psychohistorische Analyse Charles Darwins; so wurde Darwins Interesse an der Wissenschaft laut Dr Phyllis Greenacre als "Reaktion auf sadomasochistische Wunschträume über seine eigene Geburt und den Tod seiner Mutter" hervorgerufen (Medawar 1996).

Dem Historiker D.E. Stannard kommt das Verdienst zu, sich trotz der Absurdität dieser Ideen wissenschaftlich mit ihnen auseinandergesetzt zu haben. Er findet vier hauptsächliche Fehlerquellen in der Psychohistorie:
- unzuverlässige Fakten und haltlose Spekulation
- typisch pseudowissenschaftliche Logik (b kommt nach a, folglich muss a die Ursache für b sein - post hoc ergo propter hoc)
- Theorieschwäche der zugrundeliegenden Psychoanalyse selber
- Fehlen jeglicher relativer Kulturbetrachtung und bedenkenlose Anwendung psychoanalytischer Kategorien auf fremde Kulturen.

Heutzutage verstehen sich einige Psychohistoriker als Vertreter eines "interdisziplinären und integrativen" Ansatzes, der zahlreiche Sozialwissenschaften mit einschließt; die Psychohistorie wird hier meist als "Wissenschaft von der historischen Motivation" bezeichnet. Einer der bekanntesten Psychohistoriker ist Lloyd deMause, der "Gründer der modernen Psychohistorie" und des Institute for Psychohistory.

DeMause ist ein Musterbeispiel eines ehrlichen, überzeugten Pseudowissenschaftlers - an ihm ist nichts von einem "amüsanten Scharlatan" (Noam Chomsky über einen anderen Psychoanalytiker, Jacques Lacan). Daher bietet sich eher der Vergleich mit Immanuel Velikovsky an: Ebenso wie dieser fühlt er sich von den Historikern, deren "Blick totaler Verständnislosigkeit" ihn trifft, wenn er ihnen die Psychohistorie darlegen will, unverstanden und ignoriert, was ihn zu dem bitteren Schluss veranlasst.

    "Die Erwartung, ein durchschnittlicher Historiker könne psychohistorisch verfahren, entspricht dem Versuch, einem Blinden Astronomie beibringen zu wollen." (deMause 1989, S. 46).

Historiker, die Betreiber einer "narrativen Kunst" - während er für die Psychohistorie Wissenschaftlichkeit in Anspruch nimmt; allerdings sind "Beweise etwas für Chemiestudenten an der Hochschule"(S. 30) - sind ohnehin die Schurken in diesem Stück, denn es gebricht ihnen an Empathie:

    "Ich glaube nicht mehr daran, dass die meisten traditionell vorgehenden Historiker emotional so ausgestattet sind, dass sie – auch mit einem entsprechenden Training – in der Lage wären, ihre Gefühle als Forschungsinstrument einzusetzen." (deMause 1989, S. 45f.)

Nicht nur die Historiker sind abbruchreif, sondern die Geschichtswissenschaft selber ist es auch, und ihre Nachfolgerin ist schon gefunden:

    "Das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Psychohistorie entspricht dem Verhältnis zwischen Astrologie und Astronomie oder, wenn das zu pejorativ erscheint, dem zwischen Geologie und Physik." (S. 24)

Natürlich sind deMauses eigene Leistungen nichts weniger als bahnbrechend:

    "Dieses Buch wird fast jede Vorstellung darüber, wie Geschichte zu beurteilen ist, auf den Kopf stellen." (deMause, S. 20)

Auf dem Spiel steht das Schicksal der Welt, denn wenn wir nicht bald anfangen, psychohistorisch zu denken, dann

    "[...] werden wir zweifellos bald unsere infantilen Gruppenphantasien der totalen Zerstörung der Welt ausagieren." (S. 22)

Der für jeden Pseudowissenschaftler unerlässliche Vergleich mit Galilei bleibt auch hier nicht aus (S. 26).

Wie geht die Psychohistorie also konkret vor? Ihre Methodologie beschreibt deMause so:

    "Eine Methodologie, die die Probleme der historischen Motivation in einer einzigartigen Mischung aus historischer Dokumentation, klinischer Erfahrung und dem Einsatz der Emotionen des Wissenschaftlers als dem entscheidenden Forschungsinstrument für die anstehenden Entdeckungen zu lösen versucht. (S. 30f.)

Klingt auf den ersten Blick nicht schlecht. Doch was versteht deMause unter diesen drei zentralen Aspekten der psychohistorischen Methodologie?

Die "historische Dokumentation" ist vom Einsatz und der Arbeit her mit der traditionellen Geschichtsforschung zu vergleichen; nur befasst sich der Psychohistoriker mehr mit "Versprechern", "Imagines", "Scherzen", "Träumen" etc. - also all dem, was laut Freud einen mehr oder weniger direkten Draht zum Unbewussten ermöglichen soll. Dafür gibt es keinerlei empirischen Beweis, aber wir sind ja auch keine Chemiestudenten an der Hochschule.

Unter "klinischer Erfahrung" kann man wohl nur therapeutische Praxis als Psychoanalytiker verstehen - der (Un)Wert der Psychoanalyse ist hinreichend beschrieben worden. Außerdem gehört dazu natürlich die obligatorische Lehranalyse:

    Dass diese Forderung [nach emotionaler Entwicklung des Psychohistorikers] eine individuelle Psychoanalyse als grundlegende Voraussetzung enthält, muss [...] nicht extra erwähnt werden. (S. 45)

Was ist nun mit dem Einsatz der Emotionen des Wissenschaftlers gemeint? Als zentrale These der Wissenschaftlichkeit gilt üblicherweise, eben diese Emotionen aus dem Spiel zu halten und sich um eine (zugegeben unvollkommene) Objektivität zu bemühen. Das genau steht hinter Konzepten wie "Experimentatoreffekt", "Kontrollstudie" oder "Doppelblindversuch". Emotionen spielen selbstverständlich auch eine Rolle in der Wissenschaft - eine Liebe zum Thema, der Ehrgeiz, ein Problem zu lösen, das rauschhafte Gefühl, wenn man der Lösung nahe ist. Für deMause sind Emotionen jedoch keine abstrakten Antriebskräfte, die einen auch nachts um zwei noch ins Observatorium treiben, um Barnards Pfeil zu beobachten. Ein Beispiel für den psychohistorischen Einsatz der Emotion als Forschungsinstrument: Als deMause einer Parade beiwohnt, bricht er in Tränen aus und fragt sich, warum. Dieses Gefühl  veranlasst ihn dazu, mit einer Stoppuhr herauszufinden, dass der Takt der Marschmusik ein ähnliches Tempo hat wie der Herzschlag seiner Mutter zum Zeitpunkt seiner Geburt.

Die Geburt stellt auch den Schlüssel zu den Kriegen der Menschheitsgeschichte dar, denn Krieg ist das zwanghafte Wiedererleben des Geburtstraumas (Beweis für Chemiestudenten: Wilhelm II. sprach von der "Strangulation" des Deutschen Reiches, und Hitler forderte "Lebensraum", und die Atombombe hieß "Little Boy" und ... ist das nicht alles offensichtlich?). Hinfort mit komplizierten Analysen und anstrengenden Quellenstudien, in den Limbo mit politischen, ökonomischen, kulturellen, vernünftig untersuchten psychologischen Gründen, mit Diplomatie, Revolution, Zufall, Wirtschaftskrisen, Spionage, Sozialen Fragen etc. etc. Auch hier wird der pseudowissenschaftliche Ansatz deutlich: Ich habe das Muster endlich gefunden, aber warum hört mir denn keiner zu?

Wenn deMause allen Ernstes schreibt, dass nur "[...] wenige [...] Historiker über das Nacherzählen von Tatsachen hinauszugehen versuchen [...]" (S. 31) und dass die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei, zu erzählen, "was passierte und nicht, warum es passierte" (S. 23), dann lebt er, gelinde gesagt, auf dem Mond. Diese Geschichtswissenschaft, die aus dem "Herunterleiern" von Fakten besteht, ist auf diesem Planeten zu keiner Zeit von professionellen Historikern betrieben worden. Beginnend mit Herodot über die römischen, christlichen, arabischen, indischen, chinesischen und die Historiker und Historikerinnen anderer Völker ging es der Geschichtsforschung immer nur um das Verständnis der Dinge, niemals um ein reines Herunterschreiben.  Nur vor diesem Hintergrund macht die häufige Klage über "tendenziöse" Geschichtsschreibung Sinn: Reine Fakten sind niemals tendenziös, aber die Interpretation kann es sein. Wenn deMause über die Historiker spottet, die den Ersten Weltkrieg auf eine "Unflexibilität der Allianzen" zurückführen, den Zweiten aber auf eine "Über-Flexibilität", dann zeigt er einfach, dass er sein eigenes Spezialgebiet, historische Motivation, nicht versteht. Wenn wir die (diskutierbare) These mal stehen lassen: Die "Über-Flexibilität" vor dem Zweiten Weltkrieg wäre doch einfach als eine politische Reaktion auf die mangelnde Flexibilität der Allianzen vor dem Ersten Weltkrieg zu werten. Das verträgt sich auch besser mit der ganz offensichtlichen europäischen Kriegsunlust, die Hitler mehr Freiraum gab, als dieser erwartet hatte. Aber in deMauses Weltbild verselbständigen sich Kriege, daher dürfen solche Argumente natürlich nicht gelten - der Krieg ist schließlich eine "Gruppenphantasie von der Geburt" (S. 40), und die will "ausagiert" werden.

In meinen Augen rettet nur deMauses ganz offensichtliche Aufrichtigkeit ihn vor einem korrosiven Lachen aus allen Ecken des Wissenschaftsbetriebs. Na ja, es rettet ihn vor meinem. Er glaubt so aufrichtig an seine Theorien, dass man sich richtig schäbig vorkommt, wenn man sie kritisiert.

Da es bei der Psychohistorie logischerweise um das Studium geschichtlicher Quellen geht, die in Bezug auf die Kindheit der Betreffenden meist sehr spärlich fließen, ist der Spekulation natürlich keine Grenze gesetzt, und die Opfer können sich auch nicht mehr wehren.

Ein offenbar anerkanntes "wissenschaftliches Werkzeug" der Psychohistoriker ist die Analyse von Wunschvorstellungen und Tagträumen oder Phantasievorstellungen (fantasy analysis). Zu Grunde liegt hier die Auffassung, dass realer Missbrauch im Kindesalter, so häufig er in diesem Ansatz auch sein mag, nicht einmal unbedingt erforderlich ist - eingebildeter Missbrauch tut es auch.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sind individualpsychologische Ursachen historischer Phänomene von großem Interesse, und deMause hat vollkommen recht, wenn er das Dogma kritisiert, die handelnden Personen auf der geschichtlichen Bühne seien allesamt vollkommen rational und nur von ihrer sozialen (Gruppen-)Lage her zu verstehen. Gerade Adolf Hitler ist hier ein gutes Beispiel. Aber mit der anderen Hand nimmt er den Individuen wieder die Entscheidungsfreiheit und macht sie zu Marionetten ihrer Kindheit, gezwungen, eine Variante von Nietzsches "ewiger Wiederkehr" durchzuspielen. Wie etwa George H. Frank oder Jean Macfarlane in mühsamen Studien und trotz psychoanalytischer Erwartungshaltung ermittelten, gibt es keinerlei Belege dafür, dass z.B. Neurosen auf Familienstrukturen zurückgehen, die man als Kind miterlebt hat. Jerome Kagan hat 1973 von schwer deprivierten Kindern in Guatemala berichtet, die ihre frühkindlichen Schädigungen später kompensieren konnten. Auch Jens Asendorpf berichtet von Studien an "unverwundbaren" Kindern, die offenbar schlimmste frühkindliche Schädigungen abschütteln konnten. Hier hängt offenbar sehr viel von der individuellen psychischen Konstitution der Kinder ab.

Die Psychohistorie ist nichts als ein weiterer Versuch des deterministischen Menschenbildes, das das menschliche Leben auf einen einzigen Faktor reduzieren will - andere Beispiele wären biologischer Determinismus (Sozialdarwinismus), behavioristischer Determinismus (Watson) oder sozialer Determinismus (Klassen- oder Gruppenlage). Was besonders übel an deMauses Psychohistorie aufstößt, ist die Abstempelung der überwiegenden Mehrzahl der (toten und lebenden) Eltern als kinderschändende Verbrecher - aber in der Psychoanalyse sind Mami und Papi ja ohnehin an allem schuld.

Damit soll nicht gesagt sein, dass ein grundsätzlich psychohistorischer Ansatz an sich verfehlt ist; die Untersuchung psychologischer Motivationen ist natürlich von Interesse und stellt ein wichtiges Teilgebiet der Geschichtsforschung dar; wie in allen Sozialwissenschaften üblich gibt es auch hier verschiedene Spielarten, die sich mehr oder weniger von Freud oder deMause distanzieren. Aber die grundsätzliche Verankerung in der Freudschen Psychoanalyse und die daraus folgende Vorhersagbarkeit ihrer Ergebnisse verhindert diese Eingliederung. Man kann dies mit der Wirtschaftsgeschichte vergleichen: Grundsätzlich ist sie ein bedeutender Aspekt der historischen Wissenschaft, aber sobald sie nur noch im Marxschen Sinne interpretiert wird, verliert sie ihren wissenschaftlichen Status. Sollte die Psychohistorie jemals ihre Freudianischen Wurzeln ablegen, so täte sie allerdings vermutlich gut daran, sich einen anderen Namen zu geben. Dann wäre allerdings auch nichts mehr neu an ihr, denn "durchschnittliche Historiker" betreiben diese Art von Psychohistorie schon seit dem Anbeginn der Zeit.

Die Psychohistorie sollte nicht mit der Psychohistorik verwechselt werden, eine literarische Erfindung des legendären Schriftstellers Isaac Asimov. Diese fiktive Wissenschaft befasst sich mit der Zukunft der Menschheit gemäß der kinetischen Theorie der Gase: Es ist unmöglich, das Verhalten einzelner Menschen vorauszusagen, aber über das zukünftige Verhalten großer Gruppen lassen sich präzise Aussagen machen - vorausgesetzt, die Menschen wissen nichts von den Voraussagen (wie auch die Gasmoleküle nichts davon wissen). Die Psychohistorik ist erstklassige Science Fiction und hat mit der Psychoanalyse nichts zu tun.

Literaturtips (englisch)

Stannard, D.E.: Shrinking History. Oxford University Press 1980.

Medawar, Peter: The Strange Case of the Spotted Mice and other classic essays. Oxford New York 1996. Chapters 5 and 11.

(deutsch)

Eysenck, Hans Jürgen: Sigmund Freud. Niedergang und Ende der Psychoanalyse. List Verlag München 1985.

Zimmer, Dieter: Tiefenschwindel. Reinbek 1990 (1986).

Asendorpf, Jens: Keiner wie der andere. Wie Persönlichkeits-Unterschiede entstehen. Dreieich 1999 (1988).

Zitate entnommen aus:
deMause, Lloyd: Grundlagen der Psychohistorie. Hg. von Aurel Ende. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.1989.

 

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