Falsche Lotsen, Kriegsgewinnler, und Kleinholz in der Bleiwüste

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Guten Morgen, liebe Freunde,

“bitte lernt endlich mal Euer Handwerkszeug”.

Diese Aufforderung stammt nicht von mir – und von “Handwerk” würde ich auch nicht reden…

Aber:

Das lief mir gerade bei http://turi2.de über den Weg und ist so hanebüchen, daß ich in Notwehr zur Tastatur greifen muß.

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    Jedes Jahr werden unzählige junge Journalisten ausgebildet. Leider am Bedarf vorbei.

    Neulich an der Fachhochschule Wien, an der ich „The Future of Journalism“ unterrichten darf: Ich frage die etwa 25 Studentinnen und Studenten, ob sie schon einmal in Sachen Suchmaschinenoptimierung (SEO) unterrichtet worden sind. Eineinhalb Hände werden zaghaft, zweifelnd hochgehalten. Der Rest schaut mich ratlos an.

    Das Erlebnis ist nur ein kurzer Ausschnitt. Ich muss gestehen, ich kenne den restlichen Lehrplan des Instituts nicht und vielleicht kommt das Thema SEO noch. Es ist also ungerecht, das Fehlen einer so wichtigen Arbeitsgrundlage jetzt schon zu bemängeln. Ich werde trotzdem eine SEO-Schulung in meinen Kurs einbauen.
    In der Journalistenausbildung läuft ziemlich viel falsch.Denn der kurze Ausschnitt bestätigt ein Gefühl, das mich schon länger beschleicht: In der Journalistenausbildung läuft ziemlich viel falsch. Wir (und damit meine ich alle, die sich mit Journalistenausbildung beschäftigen und ausdrücklich auch mich) verpassen gerade die große Chance, der jungen Generation das Handwerkszeug zu vermitteln, das sie braucht, um in Zukunft in ihrem Beruf erfolgreich zu sein.
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Ist Journalismus das hirnlose Runterkürzen von Agenturmeldungen und das gewerbsmäßige Vergeigen von Pressemitteilungen? Falls ja, dann ist Journalismus ein Handwerk, das bei Textrobotern bestens aufgehoben ist, wo Menschen als Kostenfaktor nicht nur unerwünscht, sondern – weil Störfaktor – sowieso völlig fehl am Platze sind.

Der real existierende “Journalismus”, das ist – und das erlebe ich bis zum Erbrechen – das Verwursten von Interview-Sätzen zu Fragmenten, die “Storytelling” (Deutsch kann auch Keiner mehr, dabei heißt es doch “Märchenerzählen für Pseudoerwachsene”) genannte Logorrhoe, wo man als Leser liest und liest und liest, bis man, endlich, vielleicht, ein sinnvolles Faktum entdeckt hat, bei dem man aber wiederum nicht weiß, ob es wahr ist, weil es – völlig aus dem Zusammenhang gerissen und/oder möglichst ohne Quellenangabe – einsam in einer Worthülsengeröllhalde steckt.

Und warum ist das so? Weil “Journalismus”-“Schulen” und “Mentoren” und “Redakteure” es den Neulingen, dem Frischfleisch in der Kanonenfutterfabrik “Medien”, mit Gewalt eingebleut haben. Und wer nicht hören will, der fliegt…

“Journalismus”, das ist geistige Inzucht. Die Folgen sind verheerend. Es wäre ja egal, wenn da IRGENDWO in dem Industrieräderwerk der Gesellschaft ein paar Blechklopfer falsch ticken. Aber es ist nicht IRGENDWO, sondern es ist da, wo die Bevölkerung ihre Informationen, ihre Leitgedanken, an denen sie sich (er)hängt, infundiert bekommt. Dagegen ist selbst Dracula in der Blutbank eine harmlose Randerscheinung.

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    Junge Kollegen mit formal bester journalistischer Ausbildung bewerben sich bei mir, bringen aber außer einer diffusen Bereitschaft, sich auf digitales Arbeiten einzulassen, nur ganz wenig von dem Handwerkszeug mit, das in unserer heutigen digitalen Welt so wichtig ist. Insbesondere beim Thema SEO, dem neben „Social“ wichtigsten Thema, wenn es um Reichweite im Netz geht, sind die meisten total blank.
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Was heißt denn “digitales Arbeiten” im Journalismus? Der wichtigste, der elementare, der phantastische Befreiungsschlag des Digitalen, ist nicht, daß die Texte gespeichert werden (das ist eminent wichtig, Rang 2), daß sie immer wieder überarbeitet und zusammengesetzt werden können (das ist Nummer 3 auf der Rangliste), sondern daß man einen Text veröffentlichen kann in einem Stück mit einer Länge von einem einzigen Buchstaben bis hin zum Äquivalent von zig gedruckten Lexika ALS EINE DATEI.

Die Befreiung vom Papierformat und dessen Mengenbeschränkung für Text und Bilder ist DAS Kriterium Nummer 1. Die Jahrtausende währende Knechtschaft, die Unterordnung unter vorhandene Textfläche, sie ist zuende! DAS ist “digital”.

Aber was soll uns hier untergejubelt werden?:

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    Insbesondere beim Thema SEO, dem neben „Social“ wichtigsten Thema, wenn es um Reichweite im Netz geht, sind die meisten total blank.
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“Social”, das ist die Infiltration von persönlichen Treffpunkten mit Werbe”botschaften”. Nicht echte Nutzinformation ist das Ziel, sondern das Verankern in Gemeinschaften, denen man auftragsgemäß Reklamegülle auf den Kopf schütten kann.

Und “SEO”, “search engine optimization”, ist die Masche, möglichst viele Leser zu leimen über dazu geleimte Suchmaschinen, denen man “Artikel” derart präpariert vor die Spider setzt, daß sie in die gerade herrschenden Selektions”kriterien” der Suchmaschinen passen. Mit echter Nutzinformation hat das nichts zu tun. Es sind hinterlistige Täuschungsmanöver, damit die Leser möglichst viele Seiten auf den Bildschirm laden. Ob sie die dann lesen, ist sowas von egal, denn das einzige, was zählt, ist der Transport von Reklamemüll in die Computer der Leser.

Für ein paar Zeilen Text wird dem Leser das Mehrtausendfache an Datenmüll aufgezwungen. “Webseiten” (web pages) mit 4 bis 5 Megabyte Datenschrott sind bei den “großen” Medien die Regel. Die Titelseite von bild.de bringt es auf 9 MegaBytes.

Wobei Leuchten des “Journalismus” sich nicht entblöden, von “Webseiten” zu schreiben, während sie real Web-Sites meinen. Technische Analphabeten schwingen sich als Wortführer auf, und beherrschen nicht einmal die einfachsten Grundlagen.

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    Wenn der Journalist nicht in der Lage ist, seinen Text so zu schreiben, dass Google & Co. ihn verstehen, werden es andere machen.Ein solches Handwerkszeug ist das suchmaschinenoptimierte Schreiben von journalistischen Texten. Denn wenn der Journalist nicht in der Lage ist, seinen Text so zu schreiben, dass Google & Co. ihn verstehen, werden es andere machen – Suchmaschinenspezialisten ohne journalistische Ausbildung.
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… und bis die Textroboter so richtig zuschlagen, werden noch eine Zeit lang auf dem Sklavenmarkt angeheuerte Hungerleidende für den Arbeitsvernichtungsmarkt suchmaschinenoptimierte Texte zusammenstoppeln. Journalismus ist DAS nicht, sondern Logorrhoe 2.0, dummes Geschwätz, das den Lesern früher oder später so auf den Nerv geht, daß sie angewidert das Weite suchen.

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    Vor kurzem erzählte mir eine junge Kollegin, die mit selbstbestimmt publizierten Stories im Netz experimentiert, dass sie jetzt ihre Artikel auch an regionale Tageszeitungen verkauft. Daraufhin stellte ich natürlich sofort die Frage: „Und wie gehst Du dabei mit dem Duplicate-Content-Problem um?“

    Denn jeder, der sich schonmal mit Google und seiner Wichtigkeit für Online-Medien beschäftigt hat, weiß, dass Google etwas gegen mehrfach verbreitete, identische Inhalte hat. Man weiß auch, dass man das Problem zum Beispiel durch das Setzen eines Canonical Tag in den Griff bekommt.
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Ja und!? Gute Texte sind gute Texte. Menschen lesen Texte. Früher oder später lernen sie, gute Texte von schlechten zu unterscheiden. Ein kurzes Strohfeuer bringt ein paar Reklameverkäufe. Aber das, was zählt, ist die (Achtung, ein vergessener archaischer Begriff!) “Leser-Blatt-Bindung”. Daß die Leser wiederkommen. Daß die Leser Einem vertrauen. Daß die Leser Einen empfehlen.

Werden Leser Jemandem, dem sie nicht vertrauen und den sie nicht empfehlen, Geld geben für seine Artikel? Wohl kaum.

Vertrauen kommt durch sinnvollen Inhalt. Wer das nicht begreift, der ist fehl am Platz.

Sinnvollen Inhalt schreibt man. Dafür recherchiert man. Den schreibt man mit Stil, Charme und Buchstabenkanone. DAS ist digital.

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    Ohne einen Blick auf die Suchmaschine vernachlässigen wir einen der wichtigsten Kanäle, um Leser zu erreichen – und der Anspruch eines Journalisten sollte ja immer sein, möglichst viele Leser zu erreichen.
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“der Anspruch eines Journalisten sollte ja immer sein, möglichst viele Leser zu erreichen.” Wirklich? Dann Alle sofort zur “BILD-Zeitung”. Der wurde vor kurzem (indirekt) durch eine “Untersuchung” in den USA bestätigt, daß reisserische Überschriften Leser anlocken. Und vice.com setzt reisserisches und schreiendes Geplärre in Geld um. Journalismus ist DAS allerdings nicht.

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    Nun werden viele sagen, „Aber ich will ja gar nicht Online-Journalist werden, sondern große Reportagen für eine Tageszeitung schreiben“. Dem würde nun vielleicht nicht die Plattitüden „Print stirbt“ und „Kiegst doch eh keinen Job“ entgegen werfen, sondern: „Bitte versuch Deinen Traum als Print-Journalist zu verwirklichen. Unbedingt. Aber denke daran, dass Du noch circa 50 Arbeitsjahre vor Dir hast. Ein Großteil davon wird digital sein. Und bei anderen Arbeitgebern, als Du es Dir heute vorstellen kannst. Vielleicht wirst Du bei Apple arbeiten, bei Snapchat oder Xing. “
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Warum so zaghaft? Warum nicht gleich sagen “Vielleicht wirst Du bei der BILD-Zeitung” arbeiten, Kai Diekmann und Franz-Josef-Wagner hofieren und ihnen Kaffee und Zigaretten servieren.” ?

Warum so zaghaft!? Die Realität steht doch groß und marktbeherrschend vor der Tür.

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    Journalismus ist nunmal Handwerk. Das war er schon immer.Also ist jetzt die Zeit, das Handwerkszeug für die digitale Ära zu lernen.
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Für wen Journalismus ein Handwerk ist, der kann UND WIRD problemlos durch einen Roboter ersetzt werden.

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    Also: SEO muss auf den Lehrplan. Dazu: Bloggen. Social. Grundlagen des Codens. Analytics. Usability. Und vieles mehr.
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Vielleicht sollte etwas ganz anderes auf den Lehrplan: Journalismus.

Aber der ist nur etwas für Könner…
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Grüße aus der Gutenberg-Galaxis

Post Title: Falsche Lotsen, Kriegsgewinnler, und Kleinholz in der Bleiwüste
Author: Acorlin
Posted: 27th October 2015
Filed As: Hochkultur, Medienmafia
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